„Freiheit leben wir im Übermaß!“

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Rita Süssmuth im Interview über Freiheit und Verantwortung

von Anna Seifert

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PuG: Liebe Frau Süssmuth, brauchen wir Vorbilder?

Süssmuth: Ja, wir brauchen sie, nicht als Idole, sondern als Beispiele, als Orientierung und Leitfiguren. Es geht um die Patterns, die Muster. Im Englischen würde man sagen „yes, we need patterns“, was nicht heißt, dass man genau werden will wie eine bestimmte Person. Es bedeutet vielmehr, dass es in meinem Umfeld Personen gibt, die einen anstiften, etwas so zu tun wie er oder sie. 

PuG: Für mich persönlich war es ein wichtiger Vorbild-Moment, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde. Es hat mir, als Mädchen, das damals noch zur Schule ging, geholfen zu sehen, dass so ein Weg für eine Frau möglich ist.

Süssmuth: Ja natürlich, sie war ja damals die erste weibliche Bundeskanzlerin und damit eigentlich sehr spät dran. Immerhin haben wir auch das passive Wahlrecht für Frauen bereits 1918 erhalten – auch wenn die Nationalsozialisten es später wieder weitestgehend abschafften.

Frauen wurde zu oft direkt und indirekt die Botschaft vermittelt: „Haltet euch aus der Politik heraus, ihr könnt es nicht!“ Inzwischen haben Frauen längst bewiesen, auch dank Angela Merkel und anderer weiblicher Führungspersönlichkeiten, „wir können es auch“ und zwar nicht weniger gut als Männer. Männer und Frauen haben teils andere, aber gleichwertige Potenziale. Das spezifische Potential der Bundeskanzlerin ist es, nicht nur sehr sachlich und fachlich an Probleme heranzugehen, sondern Entscheidungen zu treffen, die fraktionsübergreifend akzeptiert werden.

PuG: Das heißt, Ihrer Ansicht nach brauchen wir Vorbilder. Wir sollten diesen aber nicht in allem nacheifern?

Süssmuth: Wir brauchen die gelebten Beispiele. Ein Vorbild haben heißt nicht, sich vollkommen mit diesem zu identifizieren. Im Bereich der Politik war zum Beispiel Heiner Geißler ein Vorbild für mich. Das heißt nicht, dass ich politisch immer mit ihm übereinstimmte – wir konnten uns auch kritisieren und streiten. Aber das ändert nichts daran, dass sein Drang, die Welt verändern zu wollen, mich ungeheuer inspiriert hat.

Heute noch ist mein erster Satz, wenn ich mit Frauen aus aller Welt zusammenkomme, „wir sind nicht ohnmächtig!“ Es ist wichtig, dass sich der Mensch seiner Handlungsmöglichkeiten bewusst wird. Natürlich muss er auch seine Grenzen kennen, gleichzeitig kann jede Grenze auch als Herausforderung verstanden werden: Neue Antworten und Möglichkeiten, neue Paradigmen zu entwickeln und umzusetzen.

Zum Beispiel bei der aktuellen Diskussion um ein Paritätsgesetz: Die einen sagen von Anfang an, „das kommt nie“, die anderen sagen „wart’s doch mal ab!“. Immerhin gibt es ein solches Gesetz ja schon in einigen Bundesländern oder sie sind auf dem Weg (Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt). Also, warum denn nicht auch auf Bundesebene? Geschlechterparität zu fordern ist für mich kein Verfassungsbruch. Ich sehe es, angesichts von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz, vielmehr als Verfassungsbruch an, dass wir alte, überholte Praktiken so lange hingenommen haben; dass Beteiligungen im Bund oder Landtagen und Kommunen zu 80, 90 % von Männern und nur zu 20 oder 10 % von Frauen besetzt sind. Gegenwärtig fallen wir in unseren Anteilen zurück hinter die nach 1987 erreichten Anteile von 70% Männern und 30% Frauen im Bundestag.

PuG: Sie sind also eine starke Vertreterin der Geschlechterparität. Welche Rolle hat für die Entwicklung Ihrer persönlichen Positionen die Frauenbewegung gespielt?

Süssmuth: Was Frauenfragen angeht, orientiere ich mich aktuell besonders stark an der ersten großen Frauenbewegung der Weimarer Zeit. Mit den damaligen begrenzten Mitteln der Aufklärung und der Werbung haben diese Frauen Massen in Bewegung gesetzt. Dabei wurde die Bewegung zum Teil von Frauen angeführt, die trotz einer nur vierjährigen Grundschuldbildung einen enormen Bildungshunger hatten und die kleinen Reclam-Heftchen ihrer Väter aufgesogen haben. Damals waren, im Gegensatz zu der 68-er Bewegung, Frauen aller sozialen Schichten dabei. Das war ein demokratischer Durchbruch – das Recht zu wählen und gewählt zu werden, Frauen und Männer gleichberechtigt. Davon können wir heute noch lernen: die frühen Frauenrechtlerinnen konnten wirklich debattieren, Argumente formulieren usw.

Heute wissen wir, dass solche Ergebnisse keiner allein erreichen kann, wir müssen gemeinsam aktiv werden. Deshalb ist für mich die erste Frage stets nicht, „was unterscheidet uns?“, sondern „was verbindet uns?“ Frauen und Männer sind Menschen mit Möglichkeiten und Grenzen, unterschiedlich und verbunden.

PuG: Würden Sie sich denn selbst heute als Feministin bezeichnen?

Süssmuth (ohne zu zögern): Ja. Die Orientierung an der ersten Frauenbewegung ist bei mir aber erst durch die Erfahrung und Auseinandersetzung mit der zweiten und radikaleren Emanzipationsbewegung gekommen. Heute ist das Wissen um diese Frauenbewegung ein Schatz, aus dem ich Motivation schöpfe: Ich kann mir selbst und anderen Frauen sagen, wir haben uns, auch in den Jahren des eher schrittweisen Fortschritts, ein riesiges Potential erarbeitet.

PuG: Trotzdem hat es bis 1976 gedauert, bis der Ehemann nicht mehr über zentrale Fragen des Lebens – Studium, Berufswahl, Berufsausübung – seiner Ehefrau verfügen durfte.

Süssmuth: Leider ja. Rückblickend verlief die Umsetzung von der einseitigen Abhängigkeit zur Eigenständigkeit problematisch lange. Heute hingegen ist mein größtes Anliegen, wie wir die Beteiligung von Frauen wieder verstärken können, denn 1918 wählten 90 Prozent der Frauen und fast 9 Prozent erreichten den Reichstag.

PuG: Sie waren ja lange Zeit im Bundestag aktiv. Aktuell haben wir den männlichsten Bundestag seit den 1990ern. Was ist schiefgegangen? Und wie kann man erreichen, dass Frauen aktiv die Gesetze um- und mitgestalten?

Süssmuth: Die Gestaltung der Wirklichkeit hat immer rechtliche Voraussetzungen. Heute ist für mich die Kernfrage: Was brauchen wir angesichts der derzeitigen Weltlage? Und denjenigen, die mit Blick auf Deutschland meinen, dass es hier nichts mehr zu tun gebe, weil wir Frauen hier doch schon alles erreicht hätten, würde ich entgegenhalten: Welchen Einfluss nehmen wir auf die praktische Gestaltung der Politik? Laut UNO mussten schon 1975 mindestens 25 % Frauen in den Parlamenten sein, damit sie etwas bewegen können. Es reicht also zum Beispiel nicht, dass nur eine Frau in einem spezifischen Bundestagsausschuss sitzt. Ohne Allianzen mit fortschrittlich denkenden Männern kann sie da gar nichts erreichen. Unser Ziel heißt 50:50, für die Zukunft also 50 % Frauen und Männer in politischen Ämtern, auch auf lokaler, kommunaler Ebene – wir brauchen auch weibliche Bürgermeisterinnen – gerade liegt die Zahl bei etwa 10 – 15 %.

PuG: Was würden Sie denn jungen Frauen heute raten?

Süssmuth: Ganz grundsätzlich ist es mir wichtig zu betonen, „seid vorsichtig mit dem Satz, das kann ich nicht“. Formuliert ihn doch so: „Ich werde erfahren, wie ich mich entwickle und was ich hinzulerne und meine Fähigkeiten beständig weiter ausbauen und verbessern.“ Es ist ein Fehlglaube zu meinen, dass man von Anfang an wisse, wer der oder die Richtige für eine Aufgabe sei. Menschen sind immer Menschen in der Entwicklung und das ein Leben lang. Die Lernfähigkeit, das ist heute erwiesen, bleibt uns bis ins hohe Alter erhalten.

Als ich zum Beispiel die Möglichkeit hatte, in die Politik zu gehen, habe ich mir ein paar Wochen Zeit genommen und mich erst einmal gefragt „kann ich das überhaupt?“ – eine Frage, die sich Frauen übrigens tendenziell sehr viel häufiger stellen als Männer. Und dann kommt oft der nächste Gedanke: „Das kann die Person X viel besser als ich.“ Hier ist es für die persönliche Entwicklung wichtig weiterzudenken: „Was kann ich bereits? Was kann ich bei dieser neuen Aufgabe lernen und wer hilft mir dabei?“

Zudem ist immer wieder bewusst zu machen, was wir bereits erreicht haben, damit sich jede ihres eigenen Wertes, ihres Potentials positiv vergegenwärtigt. Wenn ich weiß, was ich bereits geleistet habe, motiviert mich das im Hinblick auf das, was ich noch erreichen kann; selbst, wenn ich mir das bisher gar nicht vorstellen konnte. Ich hätte zum Beispiel auch nie gedacht, dass ich so lange in der Politik tätig sein würde.

PuG: Heißt das für die jungen Frauen heute, Sie sollen sich engagieren und für politische Ämter aufstellen lassen? Haben das nicht auch schon frühere Generationen versucht und trotzdem „den großen Wurf“ noch nicht erreicht?

Süssmuth: Wenn wir schon so viel Potential haben, wirft es uns erheblich zurück, wenn wir uns mehrere Male für Ämter haben aufstellen lassen, und immer wieder die Erfahrung gemacht haben, auf den letzten Plätzen zu landen und nicht wirklich eine Chance zu bekommen. Aber da brauchen wir Allianzen und Netzwerke. In jüngsten Initiativen wirken Migrantinnen und einheimische Bürgerinnen immer häufiger zusammen, um die Situation vor Ort, auf lokaler Ebene menschlich und menschenwürdig zu gestalten. Diese Initiativen sind sehr erfolgreich. Das heißt, eine Demokratie braucht starke Individuen, wir müssen aber auch immer fragen: „Was können wir miteinander, jeder für den anderen und für sich selbst leisten?“

PuG: Ist es ausnahmslos richtig zu sagen, wir wirken im kleinen Kreis und in Kommunen? So wichtig diese Schritte sind, sind sie ausreichend? Sollten wir nicht nach „Höherem“ streben, also nach Sitzen in den Aufsichtsräten, Bundestagsmandaten, Ministerposten usw.?

Süssmuth: Sie haben ja vorhin schon vom „großen Wurf“ gesprochen. Der gelingt einfacher, wenn ich vor Augen führen kann, was wir und ich schon alles erreicht haben. Ich schaffe den großen Wurf nicht, wenn er nicht umgesetzt wird. Wir hätten z.B. den Flüchtlingsstrom ohne die unterstützenden Bürger und Bürgerinnen vor Ort niemals geschafft.

Der Punkt ist, dass wir Menschen selbst auch gemerkt haben, dass wir etwas geschafft haben. Ein Problem ist, wenn diese Aktivisten und Aktivistinnen jetzt zur Ausländerbehörde gehen und ihre Hilfe anbieten, ihnen dort gesagt wird: „Wir brauchen Sie zur Zeit nicht mehr, Sie können wieder Ihren Hobbies nachgehen.“ Das ist natürlich enttäuschend für diejenigen, die weiter mitmachen möchten und könnten.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu dokumentieren, was wir seit 1949 sowohl regulatorisch als durch zivilisatorische Leistungen erreicht haben. Aber daraus muss man eben auch die richtigen Folgerungen ziehen. „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“: will ich diesen Satz umsetzen, muss ich mich von der Ortsebene und bis zur internationalen Ebene fragen, was wir verändern können. Dabei fange ich immer an mit der Frage „Was kann ich bei uns, konkret hier vor Ort tun?“ und schöpfe dabei auch aus den Erfahrungen anderer, auch den Errungenschaften der Frauen in anderen Ländern, neues Wissen und neue Energien.

Man muss sich also anschauen, wie viele Frauen habe ich denn schon auf der lokalen Ebene, in den Ausschüssen, und zwar nicht nur in den traditionellen „Frauen“-Bereichen, wie Soziales, Bildung oder Familie, sondern auch bei den Fragen Nachhaltigkeit, Technik, Demographie. Gleichzeitig müssen wir nach Wegen suchen, wie alle unterschiedlichen Gruppierungen gleich stark repräsentiert werden – das heißt nicht nur diejenigen mit einer „guten“ Bildung, sondern auch z.B. diejenigen, die bisher sekundäre Analphabeten geblieben sind.

Wie finden wir also Repräsentanten, die in ihrem Programm als Mandatsträger, also Mitmachende in ihren lokalen Kommunen, bessere Veränderungen einführen?

PuG: Was sind solche „besseren Veränderungen“?

Süssmuth: Mir ist es wichtig, dass wir keine Kultur der Polarisierung und der Konflikte, der Gegensätze verstärkt betreiben. Kinder sollten lernen, dass sie das Recht haben zu spielen, aber nicht, die Sandgrube leer zu machen und nicht wieder aufzufüllen. Wir müssen den Sand wieder einfüllen, den wir benutzt haben, die Spielgeräte wieder so hinlegen, dass andere nach uns weiterspielen können. Das heißt, wir müssen den erhaltenden Gebrauch dessen, was wir vorfinden, lernen.

PuG: Was meinen Sie damit genau?

Damit meine ich, dass wir die Regeln des Zusammenlebens im Umgang mit den Gütern, die wir vorfinden, so einüben müssen, dass sie uns allen nutzen und erhalten bleiben. Das kann man auf das Verhalten im öffentlichen Nahverkehr genauso wie auf die Nutzung und Pflege eines gemeinschaftlichen Treppenhauses beziehen. Hier einen guten gemeinsamen Umgang zu finden ist es, was Kultur und das Wohlfühlen von Menschen ausmacht.

PuG: Könnte man das, was Sie beschreiben mit dem Wort „Achtsamkeit“ zusammenfassen?

Süssmuth: Wieso nicht? Achtsamkeit ist eben auch mehr als Aufmerksamkeit. Es ist ein vielseitiger Begriff, der natürlich auch von der jungen Generation gelebt wird, wie mir meine Arbeit an der Universität immer wieder gezeigt hat. Achtsamkeit kann zum Beispiel bedeuten, sich als Studierende Gedanken zu machen, was für moderne Lösungen man finden kann, im Bereich Verkehr oder Energie.

Man denke nur an die oft zu kritisch wahrgenommene Bewegung „Fridays for Future“. Wir sollten doch froh sein, dass in der jungen Generation gerade junge Mädchen aktiv werden und Leadership übernehmen. Eine Demokratie kommt ohne Führen und geführt werden nicht aus.

PuG: Womit wir wieder bei den Vorbildern wären.

Süssmuth: Genau. Dafür, also für das Vorgehen, braucht es auch Mut. Das sieht man jetzt auch wieder in Hong Kong. Und dieser Mut muss vorgelebt werden. Nach dem Motto, wenn du gehst, gehe auch ich mit und nicht nach dem Motto„handle mal, geh du voran“. 

Und diejenigen, die Greta Thunberg dafür kritisieren, dass sie als gerade mal 16-jährige so gestaltend und mutig vorangeht, sollten sich lieber fragen, wie es sein kann, dass junge Kinder Fragen stellen, die wir längst vergessen haben.

PuG: Wir feiern ja in diesem November 30 Jahre Mauerfall. Passend dazu ist das Thema unserer aktuellen Ausgabe „Freiheit“ –

Süssmuth: Freiheit leben wir im Übermaß!

PuG: Ist das denn nicht gut so?

Süssmuth: Natürlich, darauf wollte ich auch nicht verzichten. Leider erleben wir aktuell weltweit weniger Ausbau und zu viel Willkür, jeder glaubt sein Freiheitsverständnis zählt ohne Respekt und Rücksicht vor den anderen.  

Aber um auf Deutschland zurückzukommen: Wir leben hier sehr frei, aber fraglich ist, ob wir diese Freiheit auch mit ausreichend Verantwortung ausüben.  Denn verantwortliche Freiheit bedeutet, ich habe nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Es ist also wichtig, dass ich die Funktion bestimmter Sachverhalte zum Ausgangspunkt meines Handelns mache. Wenn ich beispielsweise im Zug ein Fenster zerkratze, dann bedeutet das: Ich konnte noch durch dieses Fenster schauen, aber nach mir ist das nicht mehr möglich. Das ist verlorene Achtsamkeit.

Oder nehmen wir das Beispiel Digitalisierung: Bei all den großartigen Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bringt, haben es unsere Kinder am wenigsten nötig, dass man ihnen noch mehr Tablets schenkt. Viel wichtiger wäre es, dass sie zunächst lernen, wozu dieses Tablet oder Smartphone dient und wozu es mich verpflichtet. Es geht um sinnvollen Umgang, nicht um ein Maximum an Kampf und Vernichtung.

In Deutschland beschweren wir uns gerne über alles Mögliche, unordentliche Treppenhäuser, vermüllte Gemeinwege. Die Frage ist aber doch: „Wie verhindern wir es? Wie können wir es in Zukunft besser machen?“ Wir müssen uns immer bewusst machen, dass wir Dinge verändern können und auch die Verantwortung haben, selbst tätig zu werden. Das müssen wir wieder lernen. Wir haben heute einen Freiheitsdrang, der das Verhältnis von Rechten und Pflichten aus der Balance gebracht hat.

PuG: Und wie kann man diese „richtige Balance“ wiederherstellen?

Wir müssen uns doch fragen: Was brauchen Menschen? Zum einen das Eingebundensein in Zusammengehörigkeit. Zum anderen Autonomie. Diese beiden Pole sind bei uns aber nicht mehr im Gleichgewicht: Das „Selbst“, die Freiheit, ist sehr stark ausgeprägt, während die Einbindung in die Gemeinschaft, das heißt, die Beschäftigung nicht nur damit, was ich brauche, sondern auch, was mein Nachbar, meine Kollegin braucht, eine zu geringe Rolle spielt.

PuG: Was wäre Ihre Handlungsmaxime an junge Frauen?

Süssmuth: Ich bin kein Fan von zu viel Abstraktion, man sollte grundsätzlich erstmal beim Konkreten bleiben. Aber, wenn Sie mich schon so fragen. Ich würde jungen Frauen sagen: Sie verbringen viel Zeit mit ihrem eigenen Körper: Schönheitspflege, Sport, Diäten. Natürlich ist es wichtig, sich um seinen Körper und sein Erscheinungsbild zu kümmern. Aber fragen Sie sich doch einmal: ist das alles, womit Sie Ihr Leben zubringen sollen? Sartre hat immer die Frage gestellt: guck nach, was einen einzelnen Menschen wirklich interessiert, wofür er alles einsetzt.

Das müssen wir uns fragen: Was ist es, wofür ich eine Menge einsetzen würde?

Genau das ist übrigens auch die Aufgabe von Elternschaft: Ihren Kindern zu helfen, den nächsten Schritt zu gehen, die nächste Grenze zu überwinden, zugleich schöpferisch spontan und nachdenklich, stark und auch schwach sein zu dürfen.

PuG: Womit wir wieder beim Grenzen verschieben wären…

Süssmuth: Diese Frage, wofür ich alles einsetzen will, kann aber niemals nur ich-bezogen sein. Vielmehr sollte ich mir bewusst werden, dass ich nicht nur für mich allein, sondern auch für andere verantwortlich bin, zum Beispiel für meine Eltern oder für unseren blauen Planeten: Diesen zu erhalten ist nicht allein Aufgabe des Staates, sondern unser aller Verantwortung. So bildet sich eine Verantwortungsethik heraus. Auch als Teil einer Gesellschaft kann es mir nicht nur um mein eigenes Fortkommen gehen, sondern ich sollte mich häufiger fragen, wie kommen auch andere dahin, wo ich bin.