Kann es echte Freiheit geben?

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Ein Kommentar eines Naturwissenschaftlers

von Marco Drewes

Können wir wollen, was wir wollen?

Die Fähigkeit, Entscheidungen frei zu treffen, macht einen wichtigen Teil unseres Selbstverständnisses aus. Offensichtlich sind wir nie völlig frei, denn es gibt politische Beschränkungen durch Gesetze und Staatsmacht, gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen und im Alltag das stete Ringen um Kompromisse mit unseren Mitmenschen. Hinzu kommen innere Zwänge und Triebe, und unser Unterbewusstsein beeinflusst unsere Entscheidungen oft, ohne dass wir es merken. Trotz alledem sind die meisten Menschen davon überzeugt, Entscheidungen im Prinzip frei treffen zu können – selbst, wenn wir uns in der Praxis nicht nur in Extremsituationen wie Krieg, sondern schon im Kampf gegen schlechte Gewohnheiten im Alltag sehr schwer damit tun.

Aber stimmt das überhaupt? Hätte sich z.B. Hitler grundsätzlich dagegen entscheiden können, den zweiten Weltkrieg zu beginnen und einen Genozid einzuleiten?

Zweifel an der Freiheit menschlichen Denkens und Wollens gab es wahrscheinlich schon immer, schriftlich dokumentiert sind sie spätestens seit den alten Griechen. Die Konzepte Vorsehung und Schicksal tauchen in nahezu allen Kulturen auf. In der westlichen Welt ist Willensfreiheit zwar gesellschaftlicher Konsens – sie ist von zentraler Bedeutung für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung – aber dennoch haben die Zweifel Spuren hinterlassen. Im Recht gibt es beispielsweise Konzepte wie Mündigkeit oder Zurechnungsfähigkeit.

Ein kleinster gemeinsamer Nenner in der Diskussion ist vielleicht, dass wir in unserer Entscheidungsfreiheit durch die Naturgesetze beschränkt sind. Streng genommen muss man in diesem Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit entscheiden. Die Grenzen der Handlungsfreiheit sind allzu offensichtlich – man kann physikalisch unmögliche Entscheidungen vielleicht gedanklich treffen, sie aber nicht umsetzen. Wir können Superman denken, aber nicht Superman sein. Im Folgenden geht es mir also um reine Willensfreiheit oder, in Schopenhauers Worten, die Fähigkeit, zu wollen, was wir wollen.1 Das Verständnis davon, wie Gedanken und Gefühle mit elektrischen Impulsen und chemischen Botenstoffen im Gehirn zusammenhängen, hat sich seit Schopenhauers Tagen rasant vertieft. Dadurch ist die Frage nach dem freien Willen von einer rein philosophischen auch zu einer naturwissenschaftlichen Frage geworden.

Die grundlegende Annahme der Naturwissenschaft ist, dass alle, aber wirklich alle Phänomene im Universum ausnahmslos ungeschriebenen Gesetzen gehorchen, den Naturgesetzen. Leider kennen wir die Naturgesetze nicht im Wortlaut, wir wissen nicht einmal, ob sie sich überhaupt in menschlicher Sprache ausdrücken lassen. Aber wir haben über die Jahrhunderte immer mehr über sie gelernt. Wissenschaftliche Theorien bilden dieses Verständnis ab, oft in der Sprache der Mathematik. Dieses Abbild ist immer nur eine Näherung, aber wir können uns mit fortschreitendem Kenntnisstand ein immer besseres Bild machen. Theorien werden allgemeingültiger und können genauere Vorhersagen machen – heute wissen wir zum Beispiel, dass Optik, Elektrizität, Magnetismus und die chemischen Eigenschaften von Stoffen alle aus einer einzigen fundamentaleren Theorie abgeleitet werden können, welche die galaktischen Magnetfelder genauso beschreibt wie die Bindungen in Molekülen: die so genannte Quantenelektrodynamik. Im Prinzip sollte diese Theorie alle unsere Entscheidungen vorhersagen können, da unser Gehirn aus Atomen besteht.

Es gibt dabei zwei Probleme, ein konzeptionelles und ein praktisches. Das konzeptionelle heißt Quantenmechanik und ist eigentlich keines, das praktische heißt Komplexität.

Schrödingers Katze im Kopf

Zunächst zum einfacheren der beiden Probleme, der Sache mit der Quantenmechanik. Historisch wurde freier Wille oft als Antithese zum Determinismus diskutiert, meist in der Annahme, es gäbe nur diese zwei Möglichkeiten. Anfang des 20. Jahrhunderts waren Philosophen auf einmal in heller Aufregung, weil Physiker entdeckt hatten, dass unsere Welt nicht deterministisch zu sein scheint. Vorgänge im atomaren und subatomaren Bereich werden nicht durch die klassische Mechanik nach Newton, sondern durch die Quantenmechanik beschrieben. In der Quantenmechanik kann man nicht genau vorhersagen, wie sich ein Atom oder Elementarteilchen verhalten wird, sondern nur die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass dieses oder jenes Ereignis eintritt. Alle Prozesse in der Natur enthalten somit ein Zufallselement. Oft ist eine mögliche Zukunft deutlich wahrscheinlicher als die anderen – wenn man z.B. ein Elektron im Vakuum unter dem Einfluss der Schwerkraft betrachtet, ist es wahrscheinlicher, es im nächsten Augenblick etwas weiter unten zu finden als weiter oben, und im Mittel bewegt sich das Teilchen so, wie man es aus der klassischen Mechanik erwarten würde. Ausnahmen sind aber nicht ausgeschlossen.

Natürlich ist Unvorhersehbarkeit nichts Neues in der Naturwissenschaft. Reale Apparate haben nur eine begrenzte Messgenauigkeit, und Messungen sind nie ganz von äußeren Einflüssen frei, die sich in Fluktuationen im Ergebnis niederschlagen. Das Elektron könnte beispielsweise auch durch die Kollision mit einem anderen Teilchen nach oben gestoßen werden, weil das Vakuum nicht perfekt war. In der klassischen Physik sind dies allerdings praktische Probleme, und die Unsicherheiten können durch verbesserte Messapparaturen beliebig weit reduziert werden. Würde man die exakte Position und Geschwindigkeit aller Elementarteilchen kennen, könnte man alle Ereignisse im Prinzip vorhersagen. Die Welt der klassischen Physik ist also fundamental deterministisch, und die Unfähigkeit, exakte Vorhersagen zu machen, ein rein technisches Problem. Die Quantenunsicherheit dagegen ist Teil der Naturgesetze, sie kann nicht durch technischen Fortschritt eliminiert werden. Einstein hat die Vorstellung, dass Zufall ein fundamentales Naturgesetz sei, stets abgelehnt („Gott würfelt nicht.“2). Experimente, unter anderem Tests der sogenannten Bell Ungleichungen3, legen aber nahe, dass die Natur doch eine Spielerin ist und die Quantenmechanik korrekt.

Im Alltag merkt man von der Quantenunsicherheit nichts, da die Gegenstände um uns herum aus einer sehr großen Anzahl von Teilchen bestehen. Die kombinierte Wahrscheinlichkeit, dass alle den unwahrscheinlicheren Weg einschlagen und über eine messbare Zeit beibehalten, liegt sehr nahe bei null. Wenn man es ausrechnet, kommt man zu dem Schluss, dass statistisch seit Anbeginn der Welt noch nie eine Tasse durch Quantenfluktuationen nach oben gefallen sein sollte. Die Zufälle, die wir im Alltag erleben, sind keine echten (quantenmechanischen) Zufälle, sondern spiegeln lediglich unsere Unkenntnis über die Details des Gesamtzustands der Welt wider. Eine unerwartete Begegnung beim Flanieren an der Alster erscheint uns nur deshalb zufällig, weil wir die Pläne unseres Gegenübers nicht kannten.

Es ist allerdings grundsätzlich denkbar, Quantenfluktuationen so zu verstärken, dass wir sie doch sehen. Das bekannteste Gedankenexperiment ist wohl Schrödingers Katze.4 Dabei konstruiert man einen Mechanismus, der eine Katze dann tötet, wenn ein bestimmtes radioaktives Atom zerfällt. Der Zeitpunkt des Kernzerfalls unterliegt aber dem quantenmechanischen Zufall, somit überträgt sich die Quantenunsicherheit auf das Leben der Katze. Ein etwas realistischeres Beispiel sind genetische Mutationen. Der Bauplan unseres Körpers ist in der DNA gespeichert, also einem Molekül. Einzelne Atome in der DNA einer Eizelle könnten Ihre Position z.B. durch Quantum Tunneling verändern. Die Quantenfluktuation würde dann die Eigenschaften des heranwachsenden Menschen verändern.

Könnte es also sein, dass auch unser Gehirn so ein Quanten-Verstärker ist, unsere Entscheidungen also Schrödinger-Katzen sind? Zum einen ist es wohl kaum möglich, die Strukturen in unserem Hirn hinreichend von äußeren Einflüssen zu isolieren, um die sogenannte Quantenkohärenz aufrecht zu erhalten, eine notwendige Bedingung für das Auftreten quantenmechanischer Effekte. Schrödinger hat bereits darüber spekuliert, dass dies vielleicht die Untergrenze für die mögliche Größe von Organismen setzt5, denn ein durch Quantenzufälle dominiertes Verhalten bringt im Konkurrenzkampf der Evolution vermutlich keinen Vorteil. Zum anderen ist es hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit auch völlig egal, denn Zufall ist kein freier Wille. Sollte die Quantenmechanik unsere Entscheidungen beeinflussen, wären sie zwar nicht vorherbestimmt, aber eben auch nicht frei.

Komplexität und der Weihnachtsmann

Das zweite Problem heißt Komplexität. Nur weil wir alle Komponenten eines komplexen Systems verstehen, heißt das nicht, dass wir daraus alle Eigenschaften des Gesamtsystems ableiten können. Wir können z.B. das Wetter nicht über Wochen vorhersagen, obwohl wir die zugrunde liegenden Naturgesetzte gut kennen. Leider ist unser Hirn sehr komplex. In den Worten von Jostein Gaader: „Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es trotzdem nicht verstehen könnten.“6 Die Frage ist also: Könnte unser Gehirn mehr sein als die Summe seiner Bestandteile?

Das Auftreten von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente wird Emergenz genannt. Man muss allerdings, wie beim Zufall, zwischen starker (echter) und schwacher (scheinbarer) Emergenz unterscheiden. Mit scheinbarer Emergenz meine ich hier, dass alle Eigenschaften des Systems sich im Prinzip aus denen der Komponenten ableiten ließen, dies aber praktisch nicht möglich ist, weil es unser Wissen oder unsere geistigen Kapazitäten übersteigt. Die Existenz solcher Phänomene ist unumstritten, Wetterphänomene sind nur eines von vielen Beispielen. In jedem Glas Wasser befinden sich Milliarden von Milliarden Moleküle, und niemand vermag zu sagen, welches gerade wo ist. Dennoch kennen wir die Wärmeleitfähigkeit von Wasser und können sie technisch nutzen. Ein Bienenvolk kann komplexere Probleme lösen als eine vergleichbare Anzahl unorganisierter Insekten, ohne, dass man dabei an Magie glauben muss.

Im Gegensatz dazu wäre echte Emergenz eine Eigenschaft, die auch ein unendlich intelligentes Wesen mit exakter Kenntnis aller Eigenschaften aller Komponenten des Systems nicht vorhersagen könnte. Ein echter (also nicht nur eingebildeter) freier Wille wäre so eine Eigenschaft. Die Beweislage dafür ist sehr dünn. Es gibt zwar viele Phänomene, die den Naturwissenschaftlern Rätsel aufgeben, aber keinen Beweis dafür, dass dies nicht allein an unsrem Unvermögen liegt, also scheinbare Emergenz ist.7

Wenn man die Existenz einer Sache weder beweisen noch einwandfrei widerlegen kann, was dann? Eine Antwort wird William of Ockham zugeschrieben, einem Mönch aus dem 13. Jahrhundert: Im Zweifel gewinnt die einfachere Erklärung. Oder, in den Worten von Carl Sagan: „Extraordinary claims require extraordinary evidence.” 8 Bekannte Beispiele sind der Weihnachtsmann oder Russels Teekanne, eine hypothetische winzige Teekanne, welche die Sonne umkreist.9 Es ist extrem schwierig, deren Existenz mit absoluter Sicherheit zu widerlegen – aber auch nicht nötig, denn die Beweislast liegt bei denjenigen, die den Weihnachtsmann gesehen haben wollen.

Wenn man die Existenz einer Sache weder beweisen noch einwandfrei widerlegen kann, was dann? Eine Antwort wird William of Ockham zugeschrieben, einem Mönch aus dem 13. Jahrhundert: Im Zweifel gewinnt die einfachere Erklärung. Oder, in den Worten von Carl Sagan: „Extraordinary claims require extraordinary evidence.” 10 Bekannte Beispiele sind der Weihnachtsmann oder Russels Teekanne, eine hypothetische winzige Teekanne, welche die Sonne umkreist.11 Es ist extrem schwierig, deren Existenz mit absoluter Sicherheit zu widerlegen – aber auch nicht nötig, denn die Beweislast liegt bei denjenigen, die den Weihnachtsmann gesehen haben wollen. Es ist extrem schwierig, deren Existenz mit absoluter Sicherheit zu widerlegen – aber auch nicht nötig, denn die Beweislast liegt bei denjenigen, die den Weihnachtsmann gesehen haben wollen.

Aber welches von beiden ist beim Beispiel des freien Willens die einfachere Erklärung, und welches ist der „extraordinary claim“? Der freie Wille ist ein im Alltag sehr intuitives Konzept und liefert eine scheinbar einfache Erklärung für das Verhalten der Menschen. Aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers ist er aber eine sehr starke Behauptung, denn er würde die reduktionistischen Grundfesten unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes infrage stellen, die überall sonst millionenfach experimentell bestätigt wurden. Man müsste erklären, warum ausgerechnet unser Gehirn anders sein soll als alle anderen Strukturen in der Natur, obwohl es nachweislich aus den gleichen Stoffen besteht und die Beobachtungen der Biochemie und Neurobiologie in gutem Einklang mit den Gesetzen der Physik stehen. Und ein starker Beweis fehlt – keine menschliche Verhaltensweise erfordert zwingend die Existenz eines freien Willens.

An Freiheit glauben, weil wir es müssen

Der freie Wille befindet sich also mit dem Weihnachtsmann in guter Gesellschaft – man glaubt gerne dran, Beweise gibt’s aber keine. Sollten wir seine Existenz daher für ähnlich unwahrscheinlich halten? Den Ausschlag gibt am Ende vielleicht doch ein philosophisches Argument und kein naturwissenschaftliches. Laut Kant sollten wir so handeln, dass die zugrunde liegende Maxime als allgemeines gesellschaftliches Prinzip denkbar ist. Beispielsweise sollte man nicht lügen, weil eine allgemeine Akzeptanz von Lügen effektive Kommunikation praktisch unmöglich macht. Eine Gesellschaft, die auf diesem Prinzip basiert, ist nicht denkbar.12 Ähnlich undenkbar ist eine Gesellschaft, in der Menschen in keiner Weise für ihr Handeln verantwortlich sind. Und selbst, wenn man sich für solche gesamtgesellschaftlichen Überlegungen nicht verantwortlich fühlt, ist es schwer vorstellbar, wie eine persönliche Lebensphilosophie aussehen könnte, die gänzlich ohne Konzepte wie Entscheidung oder Verantwortung auskommt. Obwohl aus naturwissenschaftlicher Sicht erhebliche Zweifel angebracht sind, gilt für den freien Willen somit: Im Zweifel für den Angeklagten. Man kann es als ernüchternd empfinden, aus solch pragmatischem Zwang heraus an Freiheit zu glauben – oder aber sich an der darin liegenden Ironie erfreuen.

  1. Arthur Schopenhauer, Über die Freiheit des menschlichen Willens, 1839.
  2. Laut Wikipedia lautet das Originalzitat “Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.” und stammt aus einem Brief an Niels Bohr.
  3. J. S. Bell: On the Einstein-Podolsky-Rosen paradox. In: Physics Vol. 1, No. 3, 1964, S. 195–200.
  4. Erwin Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, Naturwissenschaften, Band 23, 1935.
  5. Erwin Schrödinger, Vorlesungsreihe am Dublin Institute for Advanced Studies im Februar 1943, veröffentlicht unter dem Titel What Is Life? : The Physical Aspect of the Living Cell (1944).
  6. Jostein Gaader in Sofies Welt.
  7. Tatsächlich gibt es eine Handvoll Beobachtungen, die sich mit Sicherheit nicht mit den etablierten Modellen der Physik erklären lassen, beispielsweise die so genannte Dunkle Materie. Keine davon legt aber ein grundsätzliches Versagen der Naturgesetze nahe. So ließe sich die Dunkle Materie etwa einfach durch die Existenz eines zusätzlichen Elementarteilchens erklären.
  8. Carl Sagan, Encyclopaedia Galactica, Cosmos. Episode 12 (December 14, 1980), Sagan hat die Phrase vermutlich von Philip Abelson übernommen.
  9. Bertrand Russel, Is There a God? (1952).
  10. Carl Sagan, Encyclopaedia Galactica, Cosmos. Episode 12 (December 14, 1980), Sagan hat die Phrase vermutlich von Philip Abelson übernommen.
  11. Carl Sagan, Encyclopaedia Galactica, Cosmos. Episode 12 (December 14, 1980), Sagan hat die Phrase vermutlich von Philip Abelson übernommen.
  12. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785).