Ende der Gleichgültigkeit

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75 Jahre nach Auschwitz – Deutschland 2020

von Lionel Reich

Der folgende Beitrag entstand aus der Eröffnungsrede zur Gedenkveranstaltung am 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 2020. Hauptrednerin war die in Hamburg lebende Peggy Parnass. Sie überlebte den Holocaust durch einen Kindertransport nach Schweden im Jahr 1939. Später kehrte sie nach Hamburg zurück und engagiert sich seitdem im Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung.  

Liebe Leserin, lieber Leser,  

vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Ausschwitz von der Roten Armee befreit. Jenes Konzentrationslager, indem insgesamt über eine Million Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Unter ihnen die gesamte Familie meiner Großmutter: Ihre Eltern Simon und Manja Mincberg und ihre Zwillingsschwestern. Auch mein Großvater war in Auschwitz gefangen gehalten. Als sich die sowjetische Armee dem Konzentrationslager näherte, wurde er auf den sogenannten Todesmarsch geschickt. Er ist der einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebte. Getötet wurden seine Eltern Chanine und Rachel Reich, sowie seine Geschwister Cylla und Herschel.  

Meine Großeltern starben vor einigen Jahren, doch wollten nie über ihre Erlebnisse während des Holocausts berichten. Sie schämten sich sogar für das, was sie in den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte erlebt hatten. Sie konnten nicht begreifen, wieso sie den Krieg überlebt hatten, ihre gesamte Familie und ihre Freunde aber weniger Glück hatten.   

Umso wichtiger ist es, dass es Menschen wie Peggy Parnass gibt, die sich tagtäglich dafür stark machen, dass unsere Gesellschaft Hass und Diskriminierung nicht akzeptiert. Für ihr jahrelanges Engagement wurde Peggy im Februar dieses Jahres vom Hamburger Senat mit der Ehrendenkmünze in Gold geehrt.   

75 Jahre nach dem Holocaust werden die Stimmen immer lauter, die ein Ende der Erinnerungskultur fordern. Holocaustmahnmale werden als Denkmal der Schande und die Shoa als Vogelschiss in der Geschichte abgetan. Der Antisemitismus nimmt in Deutschland und Europa immer weiter zu. Laut einer im letzten Jahr erhobenen Studie sind 41 % der Deutschen der Meinung, dass Juden zu viel über den Holocaust reden würden. Jeder Vierte denkt sogar antisemitisch. Die Zahlen des Bundeskriminalamts sprechen für sich: im Schnitt gibt es fünf antisemitische Attacken pro Tag in Deutschland – bei nur ca. 130 000 hier lebenden Jüdinnen und Juden.  

Viele haben mich im Vorfeld gefragt, warum ich die heutige Veranstaltung ins Leben gerufen habe. Erstens, weil wir immer weniger Möglichkeiten haben werden, mit Zeitzeugen zu sprechen – 75 Jahre nach Kriegsende. Zweitens, weil ich mir nicht sicher bin, ob die Lehren aus dem Holocaust immer noch fest in unseren Köpfen verankert sind.  

Das frage ich mich, weil mir jüdische Schülerinnen und Schüler, die ich als Jugendleiter betreue, davon berichten, dass sie aufgrund ihrer Religion auf dem Schulhof beleidigt und gemobbt werden. Das frage ich mich, weil mein Rabbiner im Juni vergangenen Jahres auf dem Rathausmarkt im Herzen Hamburgs bespuckt wurde, nur weil er Jude ist.  

Das frage ich mich, weil nur eine einfache Holztür vor wenigen Monaten verhindern konnte, dass ein Blutbad in einer Synagoge in Halle angerichtet wurde. Ein Freund von mir war an Yom Kippur in der Synagoge in Halle und berichtete von seiner Todesangst, als er den Schützen Stephan B auf den Kameraüberwachungen sah.   

Es muss dieselbe Todesangst gewesen sein, die die Eltern meiner Mutter verspürten, als sie sich – wie man es aus der Geschichte von Anne Frank kennt – in Wohnungen in Belgien während des Holocausts versteckten und wussten, dass ihre Entdeckung durch die Deutschen ihren sicheren Tod bedeuten würden.   

Nach Halle teilten mir Freunde mit, dass sie von nun an aus Angst nicht mehr zu hohen Feiertagen in die Synagoge gehen würden. Eine Freundin von mir fragte auf Facebook, ob inzwischen nicht der Punkt erreicht sei, um als deutsche Jüdin die Koffer zu packen.  

Eines müssen wir hierbei begreifen: Dass Jüdinnen und Juden sich auch noch in fünf, zehn, zwanzig Jahren wohl in Deutschland fühlen, ist keine Aufgabe, die die Politik allein zu bewältigen hat. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, jedem und jeder Bürger*in dieses Landes, Diskriminierung nicht zu tolerieren und dagegen einzustehen.  

Von Eli Wiesel, der selbst das Konzentrationslager Auschwitz überlebte und später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, stammt folgendes Zitat: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit“. Lasst uns aktiv werden, wenn wir mitbekommen, dass andere diskriminiert werden. Egal ob wegen der Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Sexualität oder Religion. Egal ob auf dem Campus, auf der Straße, am Arbeitsplatz oder am Küchentisch. Wir dürfen uns nicht auf einem Gefühl der Gleichgültigkeit ausruhen! Diskriminierung muss aktiv bekämpft werden!