Globaler Erziehungsmangel | Marc Philip Greitens 

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Featured

Polemik über ein schwer erträgliches Männerproblem

Bild.de, Schlagzeile am 30.08.2022: „Pia (25) wurde getötet – Nachbar gesteht Tat; Verschmähte sie seine Liebe?“. Jeden verdammten Tag finden sich im Boulevard – und nicht nur dort – Zeugnisse männlicher Untaten gegen Frauen.
Alter, Herkunft, sozialer Status, Glaubensbekenntnis spielen keine Rolle: Fernfahrer und Zahnärzte, Einheimische und Eingewanderte, Junge und Alte, Ehemänner und Ex-Freunde; Atheisten, Christen und Muslime, Erste Dates und Verflossene belästigen, begrapschen, stalken, nötigen, missbrauchen und töten Frauen. Jeden Tag, überall auf der Welt, seit immer, vor allem aber auch hier bei uns – überall in derwestlichen und so genannten „zivilisierten“ Welt. Und wie selbstverständlich nehmen wir das hin. „Wir“, das sind wir Männer. „Wir“, das sind aber auch Frauen; Frauen, die es hinnehmen wie das Selbstverständlichste auf der Welt, weil wir Männer ihnen keine Wahl lassen.

Mädchen und Frauen müssen ständig aufpassen. Sie müssen aufpassen wegen uns Männern; aufpassen, wenn sie im Club oder auf dem Schützenfest auf primitive Weise angemacht und angefasst werden. Auf der Hut sein müssen sie, dass wir ihnen nicht etwas in den Drink mischen, sie mit einer fucking Nadel willenlos spritzen. Wegen uns müssen sie Acht geben, wann sie wie mit wem nach Hause gehen. Es sind Männer, die dafür sorgen, dass Frauen, die von Männern vergewaltigt worden sind, lieber nicht zur Polizei gehen, weil sie fürchten müssen, dort kein Gehör und keine Hilfe zu finden . Der Vergewaltiger lebt ungestört fort und weiß, dass er nichts zu befürchten hat. Die männliche Hälfte der Gesellschaft – vermutlich fast jeder Gesellschaft – scheint das nicht besonders aufregenswert, nicht ändernswert zu finden. Und ein kleiner, aktivistischer Teil der anderen fünfzig Prozent reibt sich jahrzehnte-, jahrhundertelang in einem „Up hill“-Fight um Rechte und Rechtewirklichkeit auf, die selbstverständlich sein sollten: Dass Vergewaltigung in der Ehe auch Vergewaltigung ist, und dass „nein“ „nein“ heißt. Dass Frauen prominent von Männern wie Joko und Klaas unterstützt werden, ist eine Ausnahme.

Ein kulturübergreifendes Phänomen

Es muss sich immer noch sehr viel ändern. Dies, obwohl öffentliche Figuren wie Rubiales und Masterson4 nicht mehr ungestraft davonkommen. Es ist vor allem die Denke und – vorgeschaltet – die Erziehung der Männer, die sich ändern müssen. Es scheint ein globales Erziehungsdefizit zu geben, das auch Ergebnis zweier letztlich männergemachter Ursachen sein dürfte: Die Erziehung der Männer durch Männer nach dem eigenen Vorbild. Und die Erziehung der Männer durch Frauen, die über Jahrhunderte nicht ausbrechen konnten aus dem perversen System aus beschnittener Bildung, viel zu junger Heirat und der Ehe als männlicher Festung legalisierter Übergriffigkeit. Auch die Erziehung der Männer durch Mütter, die zusätzlich gefangen waren durch religiöse, kulturelle Einhegung, der Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und auch durch Pflichtgefühl und Mutterliebe gegenüber den eigenen Kindern. Natürlich gibt es auch in den archaischsten Verhältnissen glückliche Beziehungen. Auch Gefängnisinsassen können glücklich sein. Doch wenige Menschen, deren Freiheits- und Entwicklungsdrang von der Gesellschaft noch vor der Ich-Werdung gebrochen wird, können sich später aufrappeln, und ihre Kinder zu Besserem erziehen. Auch die Gegenreaktion ist möglich: Matriarchische Schreckensherrschaft

innerhalb von Ehe und Familie als Spiegelbild ebensolchen Patriacharts in der Außenwelt.

Tradierte Zwei-Klassen-Gesellschaft

Die globale männliche Vorherrschaft ist teilweise noch tief verwurzelt in unseren Institutionen. (Erz-)Konservative verbrämen auch solche Strukturen als „Kultur“ und „Tradition“, die eigentlich Bunker sind, um nicht bloß Auswärtige und Emporkömmlinge abzuwehren, sondern vor allem auch: Frauen. Die männliche Alleinherrschaft in fast allen großen Religionsgemeinschaften (u.a. ein Teil der evangelischen Kirchen als löbliche Ausnahme), in Schützenvereinen, Verbindungen und Ruderclubs sind organisierte Absagen an die Gleichwertigkeit der Frau; dies jedenfalls dort, wo eigene Clubs und höchste Ämter Frauen verwehrt bleiben, weil sie Frauen sind. Das ist auch deswegen ein Fehler, weil solche Institutionen ihr organisatorisches Überleben, ihre gesellschaftliche Breitenwirkung und damit ihre wichtige Funktion als kollektivistische Puffer zwischen individualistischer Vereinzelung und totalitärem Staatszugriff viel besser gewährleisten könnten, würden sie Mitgliedschaft und Geschlecht entkoppeln. Auch Sexismus in politischen Parteien jeglicher Couleur, Sport, Medien und sonstiger Berufswelt ist Ausweis männlicher Missachtung.

Manchmal ist die Ungleichbehandlung subtil, dennoch greifbar. Das gilt auch für den öffentlichen Umgang. Das mögen die Beispiele der deutschen Ex-Bundesministerin Spiegel und der finnischen Ex-Premierministerin Sarin verdeutlichen: Spiegel musste nach ihrem Verhalten während und nach der Flutkatastrophe im Ahrtahl und heftiger öffentlicher Kritik zurücktreten. 6 Das war m. E. richtig und nicht gegen ihr Frausein gerichtet. Denn Führung ist einsam. Führungskräfte an der Spitze der Gesellschaft müssen faktisch Einbußen im Privatleben in Kauf nehmen – unabhängig vom Geschlecht. Der „Platz an der Sonne“ bedeutet eben Exponiertheit, Ausgesetztsein und Eingeschränktsein in der Bewegungs- und Handlungsfreiheit. Schon Tolstoischrieb, die Person an der Spitze (bezogen auf Napoleon) sei die unfreieste von allen. Was bei Spiegel angemessen war, erschien mir bei Sarin überzogen. Ja, wer ein Land führt, grade in Krisenzeiten, kann nicht wie jedermann leben, urlauben, feiern wann, wo, wie und mit wem er/sie möchte. Alles hat seinen Preis. Auch darf man sich als politisch-moralische Autorität nicht beschweren, dass Neider:innen und Besserwisser*innen mit dem Finger zeigen, wenn man es doch tut. Dennoch: Die Art und Weise der Berichterstattung über die feiernde finnische Ex-Premierministerin dürfte über das hinausgegangen sein, was ein Mann in vergleichbarer Situation hätte über sich ergehen lassen müssen. Möglicherweise war die übermäßige Kritik auch ein Angriff eines Teils der Männerwelt, der es nicht ertragen konnte, von einer – noch dazu jungen – Frau beherrscht zu werden.

Blinde Flecken auch in der juristischen Ausbildung und Praxis

Die letzten Jahrzehnte hat der Kampf der Frauen viele Früchte getragen. Doch auch in Recht und Bildung bleibt viel zu tun. Pars pro toto: Warum spielt weibliche Biologie eine so geringe Rolle in der allgemeinen Erziehung? Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, im Schulunterricht viel über die weibliche Anatomie, Schwangerschaft und Menstruation gelernt zu haben. Und mit Blick auf uns Juratreibende: Wie kann es sein, dass Sexualstraftaten in der juristischen Ausbildung nicht behandelt werden? Wer soll da geschützt werden und warum?

Wieso ist „Eifersucht“ ein „menschlich nachvollziehbares Motiv“, sodass eine Tötung aus Eifersucht kein Mord im Sinne von § 211 StGB sein muss, sondern nur Totschlag

im Sinne von § 212 StGB ist – mit deutlich unterschiedlicher Strafandrohung. Ich meine, ein viel niederes Motiv als Eifersucht kann es nicht geben. Denn Eifersucht ist Habgier, die den Anderen zum Objekt herabwürdigt, das man sogar vernichten darf, wenn man es schon nicht haben kann. Sollte nicht ein Mensch, welcher einem anderen Menschen aus emotionaler oder sexueller Gier das Leben nimmt, genauso geächtet und bestraft werden, wie jemand, der aus materieller Gier tötet?

Jede Form von Missbrauch ist Menschenverachtung durch Tat. Sie ist Ausfluss zügelloser Charakterschwäche und Morallosigkeit des Denkens und Fühlens. Sie leugnet die menschliche Würde des Missbrauchten und rührt damit an der Wurzel jeden aufgeklärten menschlichen Zusammenlebens. So wenig wie Priester und Turnlehrer, die sich an Kindern vergehen, von Strafrecht, Gesellschaft und der Organisation, die sie alimentiert, Nachsicht erwarten dürfen, darf ein Mann, der beim Sex den entgegenstehenden Willen der Partnerin (oder des Partners) missachtet, straflos bleiben. Noch weniger darf er sich damit brüsten, gar stolz darauf sein. Jeder Mann, der bei solchen Worten denkt: „Aber wo kämen wir denn dahin?“ beweist nur, was zu beweisen war. Die berechtigte Diskussion über strafprozessuale Beweisschwierigkeiten lenkt ab vom nicht diskutablen Unwert der Tat an sich. Ein „Nein“ und ein „Ich-will-nicht“ sind Türen, die niemand durchschreiten darf, der erwartet, von moralischer Verdammung und/oder Gesetz unbehelligt zu bleiben.

Falsche Schwerpunktsetzung im „GenderDiskurs“

Auch der Diskurs über Diskriminierung durch Sprache ist wichtig. Allerdings ist offen, wie eine optimale Lösung aussehen könnte. Jedenfalls im Deutschen. Wie es ausgeht, sollte demokratisch entschieden werden, nicht durch angemaßte Erziehung weniger Selbstberufener. Aber entschieden werden muss. Denn Sprache lebt von Regelhaftigkeit und Praktikabilität genauso wie sie von Offenheit für Veränderung lebt. Chaos (s. die Genderansätze in diesem Text) und Unbrauchbarkeit führen hingegen zurück in Zeiten von Willkür und Bildungslosigkeit. Das kann nicht das Ziel sein. Und: So wichtig der Diskurs über diskriminierende Sprache ist. Andere Defizite in der Gleichstellung von Mann und Frau sind wichtiger, dringlicher, unerträglicher und sollten vorrangig adressiert werden. Wo der Sprachdiskurs dem Erfolg in den anderen Bereichen im Weg steht, sollte er nachrangig priorisiert werden.

Wer schnell mehr Gerechtigkeit möchte, muss Prioritäten setzen. Das gilt auch für die Geschlechterdebatte. Die Existenz zahlreicher sozialer Geschlechter und Geschlechtsidentitäten („gender“) scheint wissenschaftlich genauso erwiesen wie die Existenz zweier reproduktionsrelevanter biologischer Geschlechter („sex“) – auch wenn der evolutionäre Zufall Varianten produziert und unterschiedliche definitorische Anknüpfungspunkte auch zu mehr als zwei biologischen Geschlechtern führen können. Art. 3 und 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 S. 1 GG mandatieren jedenfalls den Respekt vor, die Gleichbehandlung und ein Mindestmaß an staatlichem Schutz für alle Identitäten. Und dennoch: Die Verschiebung des Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsdiskurses, weg von der immer noch völlig unzureichenden Gleichstellung von Mann und Frau im tradierten Sinne hin zu den Befindlichkeiten einer häufig gesellschaftlich ohnehin gut gestellten, weil wohlhabenden, gebildeten,westlichen „genderfluiden“ Minderheit ist nicht gerechtfertigt. Sie darf nicht den Blick auf das Wesentliche versperren.

Der Kampf der Frau ist Jahrtausende alt. Und immer noch hat sich das Denken, Fühlen, Handeln der globalen Männlichkeit nicht in ausreichendem Maße geändert. Jedes Jahr werden Tausende Frauen wegen ihres augenscheinlichen biologischen Geschlechts von Männern getötet, Zehntausende vergewaltigt und Millionen versklavt.

Angesichts dessen erhält der Kulturkampf in den Wohlfühloasen des Westens zu viel Aufmerksamkeit. Dieser Kulturkampf wirft auch Sand ins Getriebe der viel wichtigeren, weil viel mehr Menschen umfassenden und viel längeren und grundlegenderen Kämpfe für die Gleichbehandlung und Gerechtigkeit von und für Frauen (aber auch von und für Kapitalismusverlier:innen und jene von Diktatur, Theokratie, Imperialismus, Rassismus, Bürgerkrieg, Chancenungleichheit, Perspektivlosigkeit und Armut gebeutelten Millionen Menschen überall auf dieser Welt).

Der große Dave Chappelle lenkt in diesem Kontext den Blick auf eine absurde Story aus der US-amerikanischen Medienwelt. Sie steht exemplarisch für die immer noch verschobene Wertigkeit und Wirklichkeit der Geschlechter: 2015 gewann ausgerechnet mit Caitlyn Jenner ein ex-männlicher B-Promi gleich im ersten Jahr seiner/ihrer Geschlechtsumwandlung zur Frau die Auszeichnung als „Woman of the Year“. Da wird jemand „Frau des Jahres“ im ersten Jahr ihres Frauseins, obgleich sie „[n]ever even had a period“. Und es geht weiter: 2022 schwängert eine Transgender-„Frau“ weibliche Gefängnisinsassen. Ein bisexueller Mann attackiert Dave Chappelle auf der Bühne, weil er sich durch dessen auch vor der LGBTQ-Community nicht haltmachenden Witze „getriggert“ fühlt.

Überspitzt könnte man argumentieren: Gewalt und sexuelle Übergriffe gehen selbst dann von Männern aus, wenn sie sich als Teil einer sexuellen Minderheit identifizieren. Auch trans-, bi- und homosexuelle Männer bleiben Teil der globalen übergriffigen Hälfte der Menschheit. Dieser Teil der Menschheit muss sich endlich ändern. Dies gilt unabhängig davon, hinter welcher Selbstzuschreibung er sich versteckt.

***