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Aktuelle Ausgabe: PuG #23
Ilustration: Philip Heider
Ist Freiheit als Ideal nicht eigentlich völlig aus der Zeit gefallen? Großen Zuspruch finden heute wieder diejenigen, die sich gegen die Vielfalt der Menschen und ihrer Lebensentwürfe stellen. Der Populismus hat als großer Gegenentwurf zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung Einzug in unsere po-litische Landschaft gehalten. Doch nicht nur rechts der Mitte ist illiberales Denken en vogue. Auch beim Thema Umweltschutz kommen Zweifel am Freiheitsversprechen auf. Der Mensch scheint schlicht zu unvernünftig, als dass man ihm bei seinen Konsument-scheidungen noch freie Hand lassen könnte. Verbote sollen es richten, nach dem Prinzip: Ich habe nicht nötig zu denken, andere wer-den das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Aber kann das wirklich die Lösung sein? Diesen Fragen gehen unsere Autorinnen und Autoren in der neuen PuG #23 nach. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!
Aus der aktuellen Ausgabe
Fremd im eigenen Land
Das Kopftuch im Wandel der Zeit
Über Fremdheit ist schon viel geschrieben worden. Sie stellt eine der grundlegendsten sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände dar und mündet in Spezialdiskursen um Identität, Heimat, Entfremdung und schlussendlich Überfremdung. In einer globalisierten Welt, in der sowohl Stadt- als auch Landbewohner*innen leben, ist das Fremde immer schon mehr oder weniger präsent gewesen. Dabei hat „Fremdsein“ immer etwas mit räumlichen und soziokulturellen Zugehörigkeiten zu tun. Situationen, Menschen, Orte und Dinge können fremd sein oder befremdlich wirken. Oftmals werden besonders Letztere genutzt, um Fremdheit zu konstruieren und zu instrumentalisieren. Durch die Materialität der Dinge lässt sich das vermeintlich „Kulturfremde“ mit am sichtbarsten und vor allem am unmittelbarsten identifizieren. Insbesondere religiöse Marker, die in politischen Argumentationen für soziale In- und Exklusionen argumentativ herhalten müssen, stellen dabei prominente und wirkungsmächtige Symbole für den Umgang mit gesellschaftlicher Diversität und der Frage dar, wer zu einer Gesellschaft gehört und wer nicht. Sichtbar wird dies beispielsweise durch Kleidung. Das wohl meist thematisierte und mit Abstand am stärksten politisch instrumentalisierte Bekleidungsstück ist dabei das Kopftuch, wie Studien aus allen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften seit Dekaden belegen. Dass kopftuchtragende Menschen von reaktionären Politiker*innen und traditionell-konservativen Teilen der europäischen Gesellschaften als unvereinbar mit der deutschen oder europäischen Kultur angesehen werden, sollte politikkundige Personen nicht überraschen, könnte es aber. Das Kopftuch, das medial und in politischen Debatten als Repräsentantin für den mit den sogenannten „europäischen Werten“ unvereinbaren Islam „geframed“ wird, hat als Bekleidungsstück eine beachtliche Biographie hinter sich, die hier kursorisch wiedergegeben werden muss, um zu verstehen, warum „Fremdbilder“ nicht nur zeitgebunden sind, sondern anscheinend auch keinen Raum für Ambivalenzen lassen. Ziel dieses Essays ist es, die propagierte „Fremde“ in Gestalt deutscher beziehungsweise in Deutschland lebender muslimischer Kopftuchträgerinnen zu dekonstruieren und den Diskurswandel vom christlichen, bäuerlichen und deutsch-völkischen Kleidungsstück hin zum Symbol für die „Fremd-im-eigenen-Land-Rhetorik“ nachzuzeichnen. Ein Plädoyer zur Überwindung dieser „Fremdbilder“ soll den Text schließen.
Ein Kleidungsstück macht Karriere
Genealogisch fand sich in Europa lange Zeit „der Schleier für die Frau von Ehre“. Noch davor verhüllten sich die Frauen freier Männer in den Metropolen der Assyrer, wohingegen Landfrauen und Sklavinnen für Verhüllungen, die ihnen nicht zustanden, bestraft wurden. Verheiratete Römerinnen umhüllten sich von Kopf bis Fuß mit einem Manteltuch. Ab dem ersten Jahrhundert nach Christus sollten verheiratete Frauen beim Gottesdienst ihr Haupt als Zeichen ihrer Unterordnung dem Mann gegenüber bedecken, da sie als Abbild der büßenden Sünderin Eva angesehen wurden. Das Bild der reinen und asexuellen Mütterlichkeit Marias wurde schlussendlich zum Zeichen der römisch-katholischen Kirche. Der Schleier schien damit den moralischen Unterschied zwischen „ehr-“ und „unehrbar“ beziehungsweise zwischen „Zivilisiertheit“ und „Wildheit“ zu vermitteln. In der Geschichte zeigt sich, dass Kopftücher und Schleier stets als Identifikations- und Distinktionsmarker genutzt wurden und oft Ausdruck von sozialem Status waren (wie Kleidung im Allgemeinen). Eine Konjunktur hatte das Kopftuch beispielsweise zur Zeit des NS-Regimes in Deutschland und Österreich. Bilder der damaligen Zeit (oftmals in Kombination mit dem Dirndl) vermitteln den Eindruck einer „auf Tradition ruhenden, unbefleckten, bodenständigen Alpenidylle“, so Axel Steinmann, der Kurator der bereits im Vorfeld wegen ihres Themas kontrovers diskutierten Kopftuch-Ausstellung im Weltmuseum Wien. Unsachliche Kritik wurde von Ausstellungsgegner*innen ohne den Besuch der selbigen oder nähere Kenntnis des Ausstellungskonzeptes medial artikuliert. Wenn es um Fragen zur Integration von Kultur geht, scheint es in Österreich knapp neun Millionen Integrationsexpert*innen zu geben. Ähnlich viele Meinungen und Ansichten lassen sich zum Kopftuch offline an Stammtischen, im Regional- und Bundesparlament und online in sozialen Medien und Foren finden.
Zurück in die Vergangenheit: Interessant ist, dass dieses vermeintlich „autochthone“ Kleidungsstück, ähnlich wie das Dirndl, ein Fantasieprodukt mit überregionalen Einschlägen ist. Darüber hinaus wurde mit kopftuchtragenden Frauen allerhand beworben, wie ein Plakat zum Arbeitsschutz und zur Unfallverhütung der 1940er Jahre oder Tourismuswerbungen der Nachkriegsdekaden zeigen. Warum auch nicht, denn in den 1950er Jahren gehörte das Kopftuch auch bei den Schweizerinnen und den Österreicherinnen, vor allem in den ländlichen Gebieten, zur Alltagsbekleidung. Allerdings vollzog sich in dieser Zeit auch ein Wandel vom Funktionskleidungsstück zum Lifestyle-Accessoire. So tragen Frauen heute auch abseits der Laufstege und roten Teppiche Kopfbedeckungen in Form von Tüchern und Schleiern – und das jenseits bajuwarischer Landschaftsidyllen auch in norddeutschen Kleinstädten und Dörfern, wie ich aus eigenen Familienverhältnissen berichten kann.
Quo Vadis (fremdes) Kopftuch?
Für das Christentum ist der Schleier zum Sinnbild der Ehrbarkeit, Schamhaftigkeit und Jungfräulichkeit geworden. Das Christentum, wie auch das Judentum (aber erst nach 1945), in dem es ebenfalls strikte Kopfbedeckungsregeln gibt, wird als ideologischer Überbau für ein sich konstituierendes, solidarisches und heimatliches Europa instrumentalisiert. In diesem Rahmen sind in Städten wie Wien oder Frankfurt am Main orthodoxe Jud*innen genauso wenig fremd wie konservative Katholik*innen. Und was ist mit dem Islam und den darin manifestierten Kleidungsordnungen, die nichts anderes konstituieren als Weltbezug, wie es auch in anderen Weltanschauungen der Fall ist? Das Kruzifix in Klassenzimmern war trotz Trennung von Staat und Religion lange Zeit gesellschaftlich weithin akzeptiert, während es zu heftigem Widerstand führt, wenn muslimische Lehrerinnen ihr Kopftuch tragen wollen
Gesteht man muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, nicht zu, Teil dieser Gesellschaft zu sein und sich und ihre Identität zu zeigen? Das Deutsche Grundgesetz garantiert mit Artikel 2, dass „[j]eder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit [hat], soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, und mit Artikel 4 „[d]ie Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“. Diese Grundrechte gelten für alle, sind unantastbar und sollen, normativ gesprochen, die Grundlage für eine gemeinsame Identität bilden, die des Bekenntnisses zu einer gemeinsam verpflichtenden Verfassung. Wie kommt es, dass kopftuchtragende Frauen trotzdem als ein Fremdbild dienen? Dies verwundert insbesondere wegen der nachhaltigen Orientliebe der Deutschen, die bereits mit ausgedehnten Orientreisen der Preußen, Weltschauen, Kooperationen und ersten muslimischen Gemeindegründungen vor mehr als 100 Jahren im Berliner Hinterland begann. Von den einstigen erotischen Sehnsüchten der Europäer*innen, die diese auf den Orient projizierten und die der Literaturwissenschaftler Edward Said Ende der 1970er Jahre im Konzept des Orientalismus zusammenfasste, geht auch in der Gegenwart noch eine identitätskonstituierende Wirkung aus. Sie helfen bei der Konstruktion von Fremdem und Eigenem, wie es der Sozialanthropologe Gerd Baumann in seinem Grammar of Identity herausgearbeitet hat. In der Psychologie, wie auch in anderen Sozialwissenschaften, gibt es eine Vielzahl von Ansätzen zur Erklärung von Fremd- und auch Feindkonstruktionen. Rolf Haubl beschreibt dabei eine binäre Konstruktionsleistung, die nachhaltig wirkt, im Endeffekt auch ohne existierende „Fremde“ operiert und eher von Fantasien als realen Alltagserfahrungen gespeist ist. Demnach sind die Menschen, die zum Teil seit den ersten Gastanwerbeabkommen von 1955 in Deutschland (oder durch die Kolonialisierung Bosnien Herzegowinas im Habsburgerreich und späteren Österreich) leben, immer noch Fremde und das, obwohl „autochthone“ Deutsche eine gemeinsam geteilte Vergangenheit und auch eine gemeinsame Heimat mit den „Neuen Deutschen“ haben. Wieso verweilen diese „Neuen“ im Zustand der Fremde? Unter anderem aufgrund materieller Marker wie dem Kopftuch. Aber es kann nicht nur das sein. Konvertit*innen, die ein muslimisches Bekenntnis angenommen haben, sind anscheinend weniger fremd als „türkisch-stämmige“ Muslima, die vielleicht für einige befremdlich und für politisch rechts-stehende Personen bedrohlich wirken.
Sozialwissenschaftlicher Konsens ist, dass das Kopftuch ein Identitätsmerkmal unter vielen ist. Allerdings muss das Tragen nicht ein Ausdruck religiöser Gesetze oder gar patriarchalischer Zwänge sein. Dennoch wird mit diesem stark politisch aufgeladenen Stück Stoff ein Konflikt ausgetragen, der Ausdruck eines allgemeinen Zeitgeistes ist – die Parallelität von Diskursen, die darin mündet, dass die Gesellschaft gespalten ist. Nur darin bestehe Einigkeit und diese würde selten erreicht, schreibt der Migrationsforscher Aladin Al-Mafaalani einleitend in seinem Bestseller Das Integrationsparadox. Dass das Kopftuch anhaltend als Symbol für Fremde stilisiert wird, als Medienframe für Überfremdung herhalten muss und es dafür Empörung in beiden Lagern der Gesellschaft gibt – dem progressiven, liberalen und dem reaktionären, konservativen –, ist nur ein Ausdruck der gegenwertigen Phase der Globalisierung. Beschleunigte gesellschaftliche Veränderungen, Hybridisierungen, Ohnmachtserfahrungen, Entfremdungen und schließlich die sogenannten „Gatekeeper“, die diese Gefühle durch ihre Rhetorik mitkonstituieren – die Medien und Politik (jeweils sozial-liberale wie auch reaktionäre) –, können als Ursachen identifiziert werden. In der Konsequenz werden Muslim*innen desintegriert, indem ihre Anerkennung sowie Leistungen ausbleiben und ihnen ihre persönliche Heimat – Deutschland, Österreich oder ein x-beliebiges anderes Land, das durch Pluralität geprägt ist, aberkannt wird. An dem Kopftuch liegt das auch, noch zumindest. Wir müssen uns diese Kultur aneignen und uns kollektiv zu einer postmigrantischen Gesellschaft bekennen, so fordern es auch die Autor*innen des Bandes Postmigrantische Perspektiven um die Herausgeberinnen Naika Foroutan, Juliane Karakayali und Riem Spielhaus. Dann wird das Kopftuch kein Marker mehr für „Kulturfremdes“ sein, sondern für etwas Europäisches stehen, wie es unhinterfragt bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960-er Jahren auch der Fall war. Wenn dieser Schritt vollzogen ist, die postmigrantische Gesellschaft auch gelebt wird, ist es egal, ob eine (muslimische) Frau einen Schleier zu ihrem Glauben trägt oder nicht. Dann wird das Kopftuch, wie einst das Dirndl, Ausdruck und nicht Widerspruch von Heimat sein. Was auch immer Heimat für eine Person bedeutet.