Ach, die guten alten Zeiten! | Ella Radnoczy

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Mit gerade mal 22 Jahren entfloh mir das erste Mal der Ausruf: „Ach, die guten alten Zeiten!“.  

An diesem Wochentag war ich zu Besuch bei meinen Eltern und verirrte mich beim Schlendern durch die Stadt in die Gegend meiner alten Grundschule. Ehe ich mich‘s versah, stand ich vor dem kleinen Süßwarenladen, den ich als Kind, auf dem Heimweg, dem Weg zum Ballett oder der Musikschule so oft aufsuchte. Das Bild war klar vor meinen Augen: Eine riesige Theke voller gestapelter durchsichtiger Kisten mit bunten Bonbons und Gummibärchen, ein Raum der Träume voller Zuckerduft. Hinter dem Tresen stand die alte Dame am Taschenrechner und zählte meine Münzen genau ab, sie wusste immer blitzschnell, wie viel ich noch für Süßes übrighatte. Manchmal schien mir, als zauberte sie. 

Im Bann dieser Erinnerung trat ich ein und für eine Sekunde fand ich mich im Traum meiner Kindheit wieder. Statt einigen Münzen hatte ich einen Schein in meiner Tasche: Zehn Euro. Ich konnte alles kaufen, was ich wollte! Selbstvergessen begann ich, bunte Bonbons, rote Kirschen und grüne Frösche zu bestellen. 

Und dann fiel mir auf: Die Dame war nicht alt, eine Frau Ende fünfzig vielleicht; ihr schnelles Tippen auf der Maschine einfache Addition. Die Theke war kleiner als in meiner Erinnerung, im Eck lagen leere Kartons, hinten war ein Riss in der Wand und der Zuckerduft, von dem ich damals nie genug bekam, war nur der muffige Geruch eines fensterlosen Raumes.  

Ich bezahlte und ging Richtung Flussufer, zwiegespalten. Halb hüpfte in meinem Herzen das zufriedene Kind mit einer Tüte voller Süßigkeiten; halb schimpfte die entgeisterte Erwachsene über die kindliche Irrationalität, den Preis und die Nährwerte meines Einkaufs.  
An einer Bank setzte ich mich und zwang mich, mein erwachsenes Grübeln über Kalorien und Finanzen zu verdrängen. Das Kind in mir war doch überglücklich! 

Ach, die guten alten Zeiten, als eine Tüte mit Schlümpfen, bunten Bärchen und Center Shocks genug waren, im Zuckerrausch der Unbeschwertheit endlos zufrieden zu sein. Als eine Hand voll saure Schlangen mich wunschlos glücklich machten… 

Und wieder musste ich mich unterbrechen. Damals gab es auch Sorgen: Schreibe ich gute Noten? Wohnt ein Monster unter meinem Bett? Im Schrank vielleicht? Habe ich den Elternzettel für den Wandertag sicher unterschrieben mitgebracht? 
Meine Sehnsucht nach der Vergangenheit war keine nach dem einfacheren Leben. Ich sehnte mich nach einem Zeitkapselmoment meines Herzens. Nach einem Glück, das sich aus dem Hier und Jetzt von damals ergab und nicht repliziert werden konnte. Das Glück waren nie die Süßigkeiten gewesen! 

Seitdem bin ich nicht mehr im Laden gewesen, um die Zeitkapsel voller Kindheitsglück vor Verzerrungen zu schützen. Erfüllt mit neuer Überzeugung, im Hier und Jetzt die „guten alten Zeiten“ von morgen zu leben und mit vielen kleinen Zeitkapseln im Herzen, die das Glück immer bei mir behalten werden. 

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Nichts ist ja auch nicht nichts! | Philipp Braun

Diese Ausgabe der PuG soll unter dem Leitmotiv „Gestern“ alles das verarbeiten, was ob der Vergangenheit (ob in beiden – laut Duden veraltenden – Bedeutungen) so läuft, wie es läuft. Mit einiger Wahrscheinlichkeit läuft es dabei mehr oder minder schlecht. Angesichts der Tatsache, dass es nur mäßig eloquente Studierende dazu motiviert, sich in Gesinnungsartikeln darüber auszulassen, scheint das jedenfalls keine allzu gewagte Hypothese zu sein.

Wenn es um „Gestern“ geht, könnte man auf das Dafürhalten der akademischen Jünglinge allerdings getrost ein gutes Stück weniger geben und stattdessen Harry Belafonte fragen. Mit „Gestern“ kennt der sich aus, so nennt er nämlich schon seit 95 Jahren den vergangenen Tag. Genau genommen stimmt das nicht, denn er sagt nicht „Gestern“, sondern „yesterday“, schließlich ist er Amerikaner. Doch dieses Detail vermag nichts daran zu ändern, dass der Sänger mit rund 35.000 Tagen Lebenserfahrung schon einige Tage gesammelt hat. Selbst wenn man einen Musiker, der vor allem für die erstaunlich vergnügte Vertonung eines Bananenbootbeladevorgangs bekannt ist, nicht für eine geschichtliche Autorität halten mag, so ist das Verhältnis von „Gestern“ als (Leit)Motiv und die damit ausgedrückte verklärt-faszinierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu dem Mann, der schon viele „Gesterns“ gesammelt hat, trotz allem enger, als man vermuten könnte. Naheliegend, aber für die Zwecke dieses Artikels falsch wäre es dabei, jetzt an Belafontes Einsatz im Civil Rights Movement, für den Frieden in der Welt und damit an seine Bedeutung für die Entwicklung der Weltgeschichte zu denken. Das ist Belafontes „Gestern“, das jeder, oder zumindest jeder über 50, kennt. Belafonte steht sinnbildlich aber noch für ein anderes „Gestern“, für einen ganz anderen Aspekt der Vergangenheit, der uns mit der Zeit so abhandengekommen ist und nun schmerzlich fehlt wie Olaf Scholz und Friedrich Merz die Haare: ein Hauch von nichts.

„Day, is a day, is a day, is a day, is a day, is a day-o”. „Stack banana ‚til the morning come“. Liest man den reinen Text des Bananenbootsongs, möchte man sich über dessen Einfachheit doch wundern. In simpelster, repetitiver Sprache und mit nichts als akustischer Fröhlichkeit wird der Alltag einfacher Arbeiter besungen, die Bananen verladen. Eigentlich nicht der Rede wert. Und doch füllt das je nach Auftritt gut und gerne mal sieben Minuten. Sieben Minuten voller Freude und Unbeschwertheit, die es im Grunde genommen um nichts geht. (Hier hören die Parallelen zu den Spitzenpolitikern auf, allerdings in erster Linie bei Freude und Unbeschwertheit. Worum es ihnen geht, vermag man auch nach Satztiraden mit mehr Kommata als Zuhörern oft nicht sagen …)

Heutzutage scheinen solche Momente zu fehlen. Alles ist vernetzt, super informiert, super schnell, super dringend, super wichtig, und das pausenlos. Sieben Minuten nichts? Schön wär’s! Im Sekundentakt wissen uns Elektrokleingeräte mit entsprechenden Applikationen mit Neuigkeiten, Nachrichten und allem, was stresst, zu bombardieren. Und wehe dem, der nicht schnell genug mitliest, mithört und reagiert, es wartet schließlich schon der nächste Schocker. Pause ist nicht. Und schon gar nicht sieben Minuten wohlklingendes Nichts. Wer dem entgegenhalten möchte, das gehe ja auch gar nicht anders, schließlich lasse die Welt einem heute dafür vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs mit nuklearem Säbelrassen, der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung durch Politisierung sowie des Klimawandels schlicht und ergreifend keine Zeit, der hat zwei Dinge nicht gehört: Erstens den Schuss. Denn auch der Schöpfer des musikalischen Nichts bewegte sich durch eine Welt, die dem Untergang nie so wirklich fern war. Anders ist Belafontes

politischer Einsatz (manchmal übrigens auch für sehr fragwürdige sowjetische Friedensinitiativen) in einer Zeit, in der sich zwei Blöcke unnachgiebig gegenüberstanden und einander permanent atomar wegzupusten drohten, nicht zu erklären. Mehr Spaltung, mehr Gefahr geht ja kaum.

Und zweitens den Bananenbootsong. Fragt man heute das Internet und damit politisch mindestens korrekte und bedeutungsschwangere Expert*innen, so wird man schnell belehrt, dass es sich in dem Stück keinesfalls um ein halbwegs belangloses Lied über Bananenarbeiter handelt, mit denen die Arbeit etwas leichter gehen sollte. Wer das glaubt, muss schon ein verstrahlter Anachronist sein, handelt es sich doch um „a cry from the heart about how people want to be free“ – zumindest, wenn man lotofsense.com glauben darf. Dass Belafonte das niemals so gesagt geschweige denn gemeint hat, ist egal. Was weiß der denn schon? Was zählt, ist, wie es heute in die politische Dauerbeschallung passt. Und da liegt das Problem: Wenn ohne Pause Kulturkampf angesagt ist, fehlt die Zeit für Leichtigkeit. Die Zeit, den Blick schweifen, die Gedanken treiben und die Seele baumeln zu lassen. Kurz gesagt: die Zeit für nichts. Und wo kein Raum für ein bisschen nichts ist, da bleibt eben nur noch Reizüberflutung. Reize, die in der Regel alles andere als zu Entspannung einladen. Schlechte Nachrichten verkaufen sich eben besser und genug davon gibt es für gewöhnlich. Sollte es tatsächlich einmal keine berichtenswerte Probleme geben, stehen außerdem die sozialen Medien bereit, die banalsten Dinge zu solchen aufzubauschen. Und wenn auch das nicht geht, kann man ja immer noch welche erfinden. (Schon gewusst? Unsere Politiker sind eigentlich eine Elite babyfressender Globalisten …)

Genau so kommt es, dass wir, wenn wir an „Gestern“ denken, die Vergangenheit mit Rückschaufehlern voller stopfen als für Instagram unsere Körper mit Botox und Silikon. Die Wirkung beider Angewohnheiten ist ironischerweise gleich. Soll eigentlich schön aussehen, verstärkt aber nur, was sich gesellschaftlich ungut entwickelt – sei es das politische Klima, sei es das Schönheitsideal. Und beides wäre vermeidbar. Es braucht keine Nervengifte, um noch morgen und auf ewig so auszusehen wie der Durchschnittsmensch schon heute kaum. Und es braucht weder unüberzeugendes Umschreiben der Vergangenheit noch Idealisieren guter alter Zeiten, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Früher war schließlich weder alles Sch***e, was stank (siehe Sülze), noch Gold, was glänzte (man denke nur an einen vor Eisen blitzenden Vorhang, hinter dem die Atombomben abschussbereit standen). Viel hilfreicher gegen Überforderung, Überspitzung und Überpolitisierung ist es, uns – wie früher – auch mal eine Pause zu gönnen und, wo statt einem Aufreger nur eine Mücke lauert, nicht den nächsten Elefanten zu wittern. Es müssen nicht immer sieben Minuten Bananenboot sein, um mal runterzukommen. Aber für ein beruhigteres Miteinander ist gelegentlicher Raum für nichts eben auch nicht nichts, sondern eine ganze Menge.

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