Janika Wittlich
In meiner Jugend erklärte ich meinen Lehrkräften, ich sei kein schnelllebiger Lerner. Dass das Ziel beim Lernen Verständnis sei, nicht Tempo. Ich möchte Dinge mitnehmen, statt mich für den nächsten Test kurzzeitig an sie zu erinnern. Ich brauche also mehr Zeit. Mein ganzes Leben lang wurde ich für die Aufmerksamkeit auf meinem individuellen Körper belächelt und mit den Worten konfrontiert, dass das nicht möglich sei. Ich fragte, wieso ich dann hier sei, wenn mir nicht erlaubt werde, zu lernen?
Der Sprint zum Abitur: Als „Pädagogen“ mir das Bein stellten
Ich wusste damals nicht, dass ich eine andere Hirnstruktur hatte als meine Mitschüler*innen.
Ich wurde mental krank, als meine Lehrkräfte mich zwangen, mich anzupassen, unter der direkten Drohung, die Chance auf mein Abitur genommen zu bekommen. Als ich zu langsam war, bekam ich für dieselbe Leistung eine schlechtere Note. Sobald ich einer Lehrkraft erklärte, wie es mir ging, musste ich mehr kämpfen als alle anderen, denn sie übersetzten meine Worte mit „Sie möchte nicht arbeiten“. „Du könntest den Test am Freitag mitschreiben, aber wozu? Du wirst doch sowieso null Punkte bekommen, weil du nichts kannst“. „Das ist ja wirklich schlimm, dass du in so jungem Alter schon Burnout hast, das wird dich dein ganzes Leben lang verfolgen, aber es ist nicht mein Problem.“ Ich wäre egoistisch, meine eigenen Bedürfnisse an erste Stelle zu stellen, hieß es, gefolgt von der Frage, wie ich mit mir selbst leben könnte. Ich dürfe im Unterricht nicht anfangen zu weinen, das sei „unprofessionell“, sagte mir mein Schulleiter.
Es war ironischerweise ausgerechnet meine Biolehrerin, der ich als erstes anvertraute, dass etwas in meinem Gehirn sich veränderte. Sie beruhigte mich mit den Worten, sie würde mir helfen und ich sei nicht allein. Das waren die unterstützendsten Worte, die mir eine Lehrkraft in zwölf Jahren Schullaufbahn gesagt hatte. „Janika wird das Abitur nicht schaffen. Sie sollte am besten abbrechen und ein Fachabitur machen“, hieß es am selben Tag in ihrer E-Mail an meine Tutorin. Sie ignorierte mich ab dem Zeitpunkt an, ließ mich in ihrem Fach durchfallen und sprach erst wieder am Tag der Abiturzeugnisvergabe mit mir, als ich es allein und unter Extremumständen geschafft hatte. Sie, als angehende Schulleiterin, als promovierte Biolehrerin.
Zurück zum Anfang: Der Kern der Bildung und die Rolle der Lehrkraft
Lernen ist ein wunderschöner und intuitiver Prozess. Sobald wir auf diese Welt kommen, haben wir den tiefen Instinkt der Neugierde in uns. Unser Gehirn ist dafür gemacht, zu lernen und zu entlernen, immer wieder. Es empfindet Freude, wann immer es Wissen zugeführt bekommt. Wenn wir uns etwas komplett Neuem widmen, werden in unserem Hippocampus neue Bindungen zwischen bestehenden Nervenzellen kreiert. Dies ist ein lebenslanger Prozess, der nicht aufhört, sobald wir die Schule verlassen oder unser Gehirn vollständig entwickelt ist. Im Hippocampus werden nicht nur Lernprozesse und Erinnerungsvermögen verarbeitet, sondern auch Motivation und Stimmung. Somit ist es keine Überraschung, dass Emotionen und Lernprozesse eng miteinander verknüpft sind. Neue Fähigkeiten zu erlernen, erfüllt uns mit Glück und Stolz.
Fälschlicherweise wird angenommen, Lehrkräfte müssten Informationen einflößen. Andernfalls könnte die Gesellschaft denken, sie hätten in ihrem Job versagt. Dabei können nur unsere Nervenzellen Informationen leiten. Um diesen Prozess anzukurbeln, muss man herausfinden, was individuell Neugierde auslöst. Und das ist am Ende die Aufgabe einer Lehrkraft. Sie sind Neugier-Stimulatoren. Begeisterung inspiriert uns und aus Inspiration erwecken wir selbst den Ehrgeiz, uns auf neue Gebiete einzulassen und unsere bisherigen Grenzen und Fähigkeiten zu erweitern. Wieso also wird mir meine Neugierde genommen und durch Zwang ersetzt? Keine Lehrkraft sollte das Recht haben, sich in meinen individuellen Bildungsweg einmischen und meinen Kopf über meine Grenzen hinaus beanspruchen zu dürfen. Sich für etwas momentan nicht interessieren zu können, ist fatalerweise okay. Und mehr als menschlich. Und manchmal müssen wir akzeptieren, dass wir nichts tun können, um das zu ändern.
„Bildung ist ein Privileg“
Deutschland, so reich, ohne Krieg, mit Unmengen an Ressourcen, stellt eine Zielscheibe für eine Gesellschaft dar, die vermehrt unter mentalen Krankheiten leidet.
Wir können keine Veranlagung kreieren, die nicht schon immer da war. Aber sie wird erst krankhaft, wenn es aktiv den Alltag einschränkt, was passiert, nachdem ein Umstand „ausbricht“, wenn dieser Schutzmechanismus des Körpers genug getriggert wurde. Jeder Ausbruch ist eine Mischung aus Genen und dem Umfeld, in dem Menschen aufwachsen.
Und Deutschland hat ganz einfach nichts Besseres zu tun, als diesen Punkt zu triggern. Die Prämisse ist ein Land, das für Einheit gekämpft hat, um für alle dieselben Chancen bieten zu können; Möglichkeiten zu schaffen, damit jeder sein Abitur absolvieren kann. Die Erwartung an die heutige Jugend ist, Chancen zu nutzen und im Bestfall Medizin zu studieren, einfach, „weil die Möglichkeit da ist. Also arbeite dafür“. Kreiert wird teils ein Umfeld von extrem hohen Druck, Erwartungen, Ignoranz für individuelle Bestimmungen und Passionen – die besten Voraussetzungen für Ausbrüche mentaler Umstände, mit denen das Gehirn versucht, einer überwältigenden Angst entgegenzuwirken; einer Angst die daraus entsteht, alltägliche, lebensnotwendige Bedürfnisse und Leidenschaften unterdrücken zu müssen. Kinder verzichten auf Schlaf, Essen, Hobbies, soziale Kontakte. Und nach der Schule wird von ihnen erwartet, „zu wissen, was sie machen wollen“, obwohl ihr Alltag in den letzten 12 Jahre nur darin bestand, sich anzupassen und nicht darin, ihren Interessen nachzugehen oder Neues zu erforschen.
Während viele Schüler*innen versuchen, ihre Grenzen zu respektieren, werden sie dafür bestraft, verspottet und diskriminiert. Von den Menschen, die sie bis sie achtzehn sind eigentlich noch beschützen sollten. Unter dem Vorwand „Ich behandele dich auf einer Stufe, du bist alt genug“ wird an Schüler*innen jeden Tag Frust abgelassen. Sie werden eben nicht auf einer Stufe behandelt, sondern nach dem Motto „wenn du alt genug bist, muss ich keine Rücksicht auf dich nehmen“. Dass man sich Mühe gibt, wird einem erst geglaubt, wenn man Nervenzusammenbrüche erleidet. Wenn für Lehrkräfte die Anstrengung „sichtbar“ ist. Gelehrt wird, dass man sich für Erfolg totarbeiten muss, anstatt gesunde und effektive Wege zu finden, um zu arbeiten.
Muskelapparat Gehirn: Lernmuster – Denkmuster
Unser Geist funktioniert wie alles andere in unserem Körper. Treiben wir jeden Tag Sport, ohne unsere Übungen zu wechseln, machen sich schnell Grenzen bemerkbar. Idealerweise trainiert man jeden Tag andere Bereiche des Körpers. Denn an den Tagen, an denen wir unsere Arme trainieren, können unsere Beine die Beanspruchung verarbeiten. Die grundlegende Struktur des Bildungssystems ist ähnlich gestaltet: Wir lernen jede Stunde zu unterschiedlichen Themen, was die Leistungsbereiche des Gehirns abwechslungsreich beanspruchen könnte, würden Schüler*innen nicht auch nach der Schule und in den Ferien ununterbrochen mit Aufgaben konfrontiert werden. Was für andere Körperteile dauerhafte Muskelanspannung ist, ist für das Gehirn pausenloser Konzentrationszwang. Wir lehren junge Köpfen, dass sie keine Pause verdienen und auch keine brauchen würden, wären sie denn „gut genug“. Wir geben dem Gehirn keine Zeit, neu Erlerntes zu verarbeiten, was nur zeigt, dass das Bildungssystem überhaupt nicht auf den natürlichen Lernprozess ausgerichtet ist. Wir wissen die Möglichkeiten, die wir heute haben, nicht wirklich zu schätzen, andernfalls würden wir Entfaltung fördern, nicht Zwang. Und irgendwo hat sich dann in all den Jahrzehnten vielleicht doch nicht so viel geändert, wie es oberflächlich scheint.
Die Wahrheit ist, nicht nur Wissen lernt unser Gehirn, auch die Reaktion auf Unwissen: Die Art, wie wir mit uns selbst reden, die Art, welche Gedanken wir in Situationen haben sollten.
Jedes Mal, wenn wir auf etwas reagieren, bringen wir unserem Gehirn bei, wie es auf ähnliche Situationen zu antworten hat. Wenn wir auf ein Gefühl der Enttäuschung mit Scham, Isolation und Selbsthass reagieren, bestärken wir es darin, wieder so zu reagieren. Das nächste Mal wird es uns in einer Konfliktsituation schwerer fallen, nicht in diese Muster zu verfallen. Als Kind schauen wir uns die ersten Reaktionen ab. In der Schule wird einem beigebracht, dass man für jede schlechte Note, jeden Fehler, jede Konzentrationsunfähigkeit bestraft wird. Wir entwickeln Angst davor, Dinge nicht perfekt zu machen. Wir erheben unrealistische Ansprüche an uns. Das Gehirn lernt, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir allwissend handeln. Und das kann schlichtweg nie erreicht werden.
Imperfektion: Der wahre Schlüssel zum Lernen
In einem Lerninstitut sollte gelten: Fehler sind Erfolge. Denn wer sich mit dem menschlichen Gehirn auseinandersetzt, versteht, dass das der Weg ist, wie wir lernen. Immer alles „richtig“ zu machen, würde kein perfektes Leben bedeuten. Es würde schlichtweg bedeuten, sich selbst nicht zu hinterfragen. „Fehler“ sind subjektiv, sie bedeuten unser Handeln und unsere Gedanken infrage zu stellen. Emotion ist die Reaktion, die uns das nächste Mal einen anderen Weg versuchen lässt. Daher ist das Unterdrücken von Gefühlen und Instinkten in Menschen toxisch. Ein Ort des Lernens sollte Jugendlichen eine Umgebung bieten, in der sie angstfrei ihre Meinung sagen und Fehler machen können. Und auf gesunde Reflexion stoßen, anstatt auf Verurteilung.
Wer mit der Gehirnentwicklung von Kindern zu tun hat, sollte wissen, wie viel Macht er oder sie über das Verändern und Erlernen von Mustern hat. Aber das Lernsystem wird von Menschen geleitet, die selbst nicht bereit sind, zu lernen; die dieselben Muster weitergeben, die ihre Eltern noch gelehrt haben und dafür keinerlei Konsequenzen erfahren, während Kindern beigebracht wird, dass sie für jede Art von Imperfektion mit Folgen rechnen müssen. Geschaffen wird eine Ungerechtigkeit, die Kinder veranlasst, die Menschen, von denen sie lernen sollen, nicht mehr ernst zu nehmen. Kinder zu begleiten, das bedeutet Verantwortung. Egal, ob als Elternteil, als Lehrkraft oder Erzieher*in. Es ist der falsche Ansatz zu denken, dass wir alles richtig machen müssen, damit unser Kind lernt, alles richtig zu machen. Alles, wofür man bereit sein muss, bevor man Kinder erzieht, ist zuzuhören und mit ihnen noch einmal neu zu wachsen; von ihnen zu lernen, während sie von einem lernen.
Wir können Kinder nicht perfekt auf ihre eigene Zeit vorbereiten, eine Zeit, die niemand bisher erlebt hat. Alles, was wir weitergeben können, ist eine möglichst gesunde Reaktion auf Unwissenheit und Freude daran, dazuzulernen. Es ist so leicht, mit unserem Verhalten die nächsten Generationen zu beeinflussen.
„Survival Of Them All“ – Der dringende Lernstoff für die Gesellschaft
Menschen, die neurodivergente Hirnstrukturen haben, sind nicht fehlerhaft, dumm, weniger wert oder nicht für Leistung gemacht. Sie sind lediglich jeden Tag gezwungen, in einem System zu funktionieren, was von Menschen mit einer anderen Hirnstruktur erstellt wurde. Es ist keine Sache des Willens, es ist eine Sache der Unmöglichkeit. Ihr habt Erwartungen an uns, Ziele für uns, während ihr gleichzeitig bestimmen wollt, wie unsere Reise dorthin aussieht. Bevor wir Resultate zeigen können, werden wir in der Schule schon schlecht geredet für unseren Prozess. Keine Hirnstruktur ist per se schlecht. Zu verlangen, dass man gegen sein Gehirn arbeitet, würde jeden Menschen krank machen. Neurologische Strukturen sind nicht sichtbar. Ob das Gehirn genug Neurotransmitter herstellt, um Informationen korrekt zu überliefern, Hormone von Natur aus ausgleichen kann oder genauso gebaut ist wie das des nächsten Kindes, zeigt sich erst im Extremfall nach außen.
Es ist nicht verbunden mit Intelligenz oder Charakter. Und das ist das gefährliche an Ignoranz von Außenstehenden. Denn auch für Betroffene sind diese Abläufe im Körper nicht sichtbar. Und schwer zu reflektieren, wenn man sich selbst nicht anders kennt. Man fragt sich also sowieso schon genug, ob das nur Illusion ist; eine Phase, die nächste Woche wieder vorbei sein wird.
Es ist leichter für euch, Kinder in den Selbsthass oder chronische Krankheiten zu drängen, anstatt etwas zu ändern. Denn ihr müsstet zugeben, dass euer gesamtes System nicht funktioniert. Mit dem Wissensstand, den wir heute haben, wird es immer schwieriger, den Fakt zu ignorieren, dass jeder Mensch andere Bedürfnisse hat, um effektiv zu lernen. Niemand kann verglichen und bewertet werden und niemandem hat das wahrlich je beim Lernen geholfen. Dieses System ist menschengemacht und ändert sich, wenn wir uns ändern. Nur weil es jetzt nicht euer Problem ist, bedeutet das nicht, dass ihr in Zukunft nicht sehen werdet, wie Menschen alltägliche Jobs nicht mehr verrichten können, weil sie zu sehr an sich zweifeln, keine Energie mehr haben oder krank sind.
Gerechtigkeit beginnt damit, fair zu sich selbst zu sein. Wenn das jeder tun würde, wären mehr Menschen glücklich. Und wer glücklich ist, hat kein Problem damit, auch andere ihren Weg gehen zu sehen. Es geht mit Mut einher, neue Wege freizutreten. Aber sie nicht zu gehen, ist an diesem Punkt keine Option mehr. Denn anders als ihr mit eurem Bildungssystem vorspielt, bereitet ihr Kinder nicht auf die Zukunft vor – ihr nehmt sie ihnen.