Zurück in die Vergangenheit – Zweites Leben für Karottenhosen, Krepp-Strähnchen und Kate Bush | Freya Blumenstein

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„If I could turn back time” – Ende der 80er war das der milde Wunsch von Pop-Ikone Cher. Nach über 30 Jahren und vielen Besuchen beim Schönheits-Chirurgen scheint ihr Traum in Erfüllung gegangen zu sein: Chers Gesichtszüge sind noch genauso straff wie damals und wirft man einen Blick auf ihre Mitmenschen in der Fußgängerzone oder in Bus und Bahn, könnte man tatsächlich meinen, die Zeit sei stehen geblieben. Überall sieht man Baguette-Taschen, Scrunchies, knallbunte Windbreaker und die omnipräsenten weißen Sneaker. Wer nicht mindestens ein Shirt von Nirvana besitzt, hat nicht gelebt.

Würden Marty McFly und Doc Brown mit ihrem DeLorean in unsere Zeit reisen, dann würden sie an der Technik ihrer Zeitmaschine zweifeln. Die beiden hatten sich die Zukunft ganz anders vorgestellt: Im zweiten Teil der Trilogie, in dem sie im Jahr 2015 vorbeischauen, schwebt Marty mit seinen selbstbindenden Sneakers auf dem Hover- Board die Straßen entlang.

Es scheint jedoch, als hätte die Nostalgie von der Gesellschaft Besitz ergriffen. Kein Hover-Board, aber Nike Bruins halten wieder Einzug. Mit der Geburt des Internets und der damit einhergehenden Schnelllebigkeit ist in den 1990ern in England die Sehnsucht nach der guten alten Zeit so groß geworden, dass sogar ein ganzer Trend daraus wurde, der bis heute anhält. Die Rede ist von Vintage. Doch Vorsicht! Vintage ist nicht gleich Vintage. Was einfach nur alt aussieht, aber eigentlich taufrisch aus der Produktion kommt, verdient nur die Bezeichnung Retro. Streng genommen ist alles, was nach den 80ern auf den Markt kam, schon kein Vintage mehr. Jedenfalls wird seit Beginn des Trends fröhlich alte Kleidung aufgetragen und staubigen Möbeln wieder Leben eingehaucht.

Kreislauf statt Konsum

Neben all dem Spaß, den man beim Durchwühlen des Kleiderschranks der Eltern hat, gibt es noch schöne Nebeneffekte. Alten Sachen ein Revival zu gönnen, anstatt sich der Fast Fashion hinzugeben, schont den Geldbeutel und die Umwelt. Nach Angaben von Trigema legt ein Basic Shirt ca. 34.225 km zurück, bevor es auf den Wühltischen der Republik zum Billigpreis landet.1 Wenn es seinen Reiz verliert und aussortiert wird, beginnt dasselbe Spiel rückwärts und das Shirt reist mehr und länger als so mancher Konsument, der es einst getragen hat. Unsere alte Kleidung wird meist in afrikanische Länder geschickt, wo die abgetragenen Stücke trotz Gebrauchsspuren zu einem für die Einheimischen viel zu hohen Preis verkauft werden. Es ist also nicht nur die Ästhetik allein, die zur Rückbesinnung auf Altbewährtes führen sollte.

Plattformen für Vintage Kleidung boomen derzeit und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Marktforschungsfirma Global Data prognostiziert einen Umsatz von 52 Milliarden Euro für das Jahr 2024.2 Der Betrag kommt nicht von ungefähr, denn Vintage ist längst nicht mehr nur für Kleidung des unteren und mittleren Preissegments gedacht. Die Luxusmarken sind ebenfalls nicht sicher vor Weiterverkauf und Upcycling.

Auslöser war die Pandemie, während der eine regelrechte „Konsumquarantäne“ herrschte, wie es stolz in einem Artikel der WELT heißt.3 Die Läden waren nicht geöffnet. Statt nun online massenhaft zu kaufen, wurde weniger bestellt als gedacht. Die Gelegenheiten seine neuesten Errungenschaften zu präsentieren waren nämlich schwindend gering. Schrankleichen wurde der Kampf erklärt, indem sie ins Netz gestellt und Teil einer Kreislaufwirtschaft wurden.

Upcycling betagter Songs

Alte Kleidung wird also weiterverwendet. Aber was ist eigentlich mit dem Rest der Popkultur? Was ist mit der Film- und Musikindustrie?
Auch dort hat der Zahn der Zeit ordentlich zugeschlagen. Netflix traf mit „Stranger Things“ genau den Nerv der Gesellschaft. Die Serie wurde zum Kassenschlager für den Streamingdienst und – für Modehäuser. Allein der Absatz für Schweißbänder stieg um unglaubliche 217 Prozent an, wie der Zahlungsdienstleister Klarna herausfand.4 Sehr „strange“ war auch der unerwartete mega Erfolg von Kate Bush’s Song „Running Up That Hill“. Der wurde dank „Stranger Things“ 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1985 so häufig gestreamt, dass Kate auf ihrem Weg zur Bergspitze sogar Harry Styles vom Thron der Single-Charts stieß und sich den Platz ganz oben am Gipfelkreuz sicherte.5 Dabei klingen die Songs des ehemaligen Boygroup-Mitglieds auch so, als könnten sie aus dem Jahrzehnt des Synthesizers stammen.

Überhaupt haben viele Musiker der Gegenwart die Vergangenheit für sich entdeckt. The Weeknd wurde 2021 die große Ehre zuteil, mit seinem Werk „Blinding Lights“ die Nr. 1 der „Billboard Greatest of All Time Hot 100 Songs“ zu werden. Wer genau hinhört wie das New Yorker Magazin „Vulture“, erkennt den Rhythmus aus Michael Sembellos 1983 erschienenen „Maniac“ und die Synthis aus A-HAs „Take on me“ aus dem Jahr1984.7 The Weeknd hat also auch recycelt.

Um Töne zu recyclen, muss man sich aber nicht zwangsläufig mit fremden Federn schmücken. Wenn man Sir Elton John heißt und neben zahlreichen anderen Erfolgen auf 32 Multi-Platin Alben zurückblicken kann, legt man unter alte Hits einen neuen flotten Beat und fragt Britney oder Dua Lipa, ob sie nicht Lust hätten, ein bisschen zu jammen. Das ist das Erfolgsrezept für Nr. 1-Hits, die Jung und Alt auf die Tanzfläche bringen.

Im Fernsehen wird das Rad auch nicht neu erfunden

Aber wo wir gerade von generationsübergreifender Begeisterung von Remixes sprechen: das Phänomen gibt es auch im linearen Fernsehen. Shows der 80er und 90er werden gerade von Privatsendern wiederentdeckt und neu aufgelegt. Bei „Geh‘ aufs Ganze“ gibt es ein Wiedersehen mit dem Zonk und man kann mit Fernseh- Urgestein Jörg Draeger um Autos und Geld zocken. Mit Daniel Boschmann wird in „Mein Mann kann“ althergebrachten Rollenklischees gefrönt.

Vergangenheit als Rettung der Zukunft

Vintage könnte, obwohl von Natur aus rückwärtsgerichtet, insbesondere in Bezug auf die Modeindustrie die Rettung der Zukunft sein: weniger Verschwendung und Neuentdeckung alter Schätzchen.
Wenn man es richtig angeht, kann man nicht nur sich selbst verwirklichen, sondern auch einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.

Wiederverwertung in der Film- und Musikindustrie hat einen ganz besonderen Charme. Sie retten zwar nicht die Welt, aber recycelte Songs und Serien üben eine Faszination aus, der man sich nicht entziehen kann. Viele der Vintage-Begeisterten haben nicht in diesen Zeiten gelebt hat oder waren so jung, dass sie kaum Erinnerungen damit verbinden können. Trotzdem besteht paradoxerweise bei den meisten Menschen der Wunsch dorthin zureisen, um einmal mit Monica und Rachel

einen Kaffee im Central Park zu trinken oder mit Danny Zuko und den T-Birds an einem illegalen Autorennen teilzunehmen.
Vielleicht liegt es daran, dass früher alles so viel einfacher schien: Keine ständige Erreichbarkeit und bequemere Kleidung.

Nicht zuletzt birgt Vintage in der Unterhaltungsbranche die Chance, sich seinen Eltern auf ganz neue Weise verbunden zu fühlen. Tatsächlich waren auch sie mal jung und haben wie man selbst zu den gleichen Liedern im Club getanzt. Damals hieß es allerdings Disco und die Getränke waren günstiger.

Vintage hilft uns, das Gute im Alten zu sehen und neue Erinnerungen zu schaffen, die man wiederum an die nächste Generation weitergeben kann. Dies ist auch eine Art Kreislaufwirtschaft. Nichts geht so ganz verloren und das ist doch irgendwie beruhigend. Aber wer nur in der Vergangenheit lebt, verpasst die Gegenwart und scheitert in der Zukunft.

Oder um es mit den Worten von Dr. Emmet Brown zu sagen: „Deine Zukunft ist bisher noch nicht geschrieben. Sie ist immer das, was du daraus machst. Also gib dir ein bisschen Mühe!“

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