Digitale Lehre

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Wie wir unsere Universitäten verlieren

von Philipp Eschenhagen

Hochschullehrer, Fachbereichsleiterinnen, die gesamte erweiterte universitäre Führungsriege geben in diesen Corona-Zeiten gerne die digitalen Pioniere Deutschlands. Ihr Pioniergeist äußert sich in „Zentren für digitalen Wandel“, „e-learning“-Projekten, „Wiseflow“-Klausuren und „Zoom“-Unterricht. Die universitäre Landschaft müsse endlich im 21. Jahrhundert ankommen, der digitale Wandel wie eine frische Brise durch vermuffte Seminarräume ziehen. Es ginge in diesen Zeiten darum, Durchhaltevermögen zu beweisen. Eine Verzögerung des Lehrbetriebs dürfe man sich nicht erlauben, das könne weder den Studierenden noch dem Arbeitsmarkt zugemutet werden. Und überhaupt: Die Krise als Chance sehen! Nicht groß lamentieren, sondern nachholen, was ohnehin seit Jahren wartet: Die Digitalisierung der Lehre! An amerikanischen Unis schon längst selbstverständlich, müssten wir in Europa endlich nachziehen. Dem Virus jetzt mit einem gemeinsamen Kraftakt auch an den Universitäten begegnen!  

Solche kämpferischen Töne sind wir seit einigen Wochen aus den Newslettern, Interviews und Videokonferenzen gewöhnt. Nicht nur von Politik und Wirtschaft, sondern zuletzt eben auch von den Universitäten. Zwar müssen sich Lehrende und Studierende in Zeiten der Kontaktbeschränkungen der Realität anpassen. Doch die digitale Lehre – heute noch praktisches Hilfsmittel zur Corona-Bekämpfung – könnte von der Ausnahme zur Regel werden. Nicht zum ersten Mal würden Ausnahmeregeln den Ausnahmezustand überdauern. Die Entscheidungen für das Sommersemester 2020 werden die Universitäten womöglich langfristig prägen.   

Digitalisierte Lehre darf auf diese Weise nicht zur Norm werden. Zwar benötigen viele Universitäten eine bessere, entbürokratisierte Organisationsstruktur. Digitalisierung spielt dabei eine wichtige Rolle. Es spricht auch wenig dagegen, gelerntes Wissen digital abzuprüfen – etwa über genannte „Wiseflow“-Klausuren. Die Lehre aber, der Kern der Universitäten, sollte auf lange Sicht von der Digitalisierung verschont bleiben. Die Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden macht gute Lehre aus. Nicht die reine Wissensvermittlung steht dabei im Vordergrund, sondern ein gemeinsames Erleben. Lehre ist gemeinsames Fühlen, Tasten und Suchen. Lehre ist kein bestimmtes Lehrbuch oder innovatives Lehrvideo, vielmehr ist sie dem Werkbegriff nicht zugänglich, sondern geht im momentanen Ereignis auf. Lehre ist also einzigartig, flüchtig und bereits im Erscheinen im Verschwinden begriffen. Sie erschöpft sich nicht im Verstehen oder der Wissensvermittlung. Vielmehr geht es auch um Schwellenerfahrungen, liminale Zustände, ästhetische Erfahrung.  

Häufig ist es erst die körperliche Präsenz von Lehrenden und Studierenden, die solche Erfahrung auslöst. Sie ermöglicht Aktion und Reaktion, Nicken, Kopfschütteln, Räuspern, Augenverdrehen, etc. Aktion und Reaktion können Rollenwechsel zur Folge haben, Lehrende können von Akteuren zu Zuhörern werden, ebenso wie Studierende von Zuschauern zu Akteuren. Erst die körperliche Präsenz ermöglicht die Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden in einer Art und Weise, wie es Videokonferenzen nicht gelingen kann. Ideen von der Lehre als Video-Livestream verharren in einer Rezeptionsästhetik, die lediglich der Wissensvermittlung entspricht. Denn der Video-Livestream trennt Akteure von Zuhörern, Lehrende von Studierenden; sie können nicht mehr körperlich interagieren. Es wird nur das Gesagte rezipiert, ohne ein (körperliches) Feedback zu generieren. Lehre ist dann nicht mehr gemeinsames Erleben, sondern Sprechen oder Zuhören während alleine zu Hause auf einen Bildschirm geguckt wird.   

Warum aber bedarf es des (ästhetischen) Erlebens in der Lehre; ist mit der Wissensvermittlung nicht schon viel gewonnen? Die Antwort dürfte vom Ideal der Universität abhängig sein. Dient die Universität in der Hauptsache der Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt, so ist Wissensvermittlung ihre zentrale Aufgabe. Für die meisten ist Universität jedoch mehr als das, nämlich zuallererst ein gemeinschaftlicher Raum, der den gesamten Campus als real existierenden Ort umfasst. Dieser physische Raum dient dem Austausch, dem Ausprobieren, er ist zuvorderst ein Lebensort, der durch gemeinsames Erleben erst entsteht. Hier hat die Unsicherheit ihren Platz, das Ambivalente und das Unbestimmte. Hier darf es nicht nur um Optimierung gehen, um Effizienz. Der gemeinschaftliche Raum Universität ist als solcher einzigartig in einer Gesellschaft, die sich weiterhin durch zunehmende Optimierung und Effizienz definiert.   

Das Kernstück dieses gemeinschaftlichen Raums ist die Lehre. Hörsäle und Seminarräume sind die Orte, an denen Universität als gemeinsames Erleben stattfindet. Hier wird das Lernen zum Erleben. Digitale Lehre aber annulliert dieses Lehrereignis. Und nicht nur das: Sie verhindert auch sonstiges Campus-Leben. Wer keine Vorlesungen oder Seminare besucht, der benötigt vorher keine Cafeteria, geht nachher nicht in die Mensa. Der Raum Universität geht so verloren.   

Die digitalisierte Lehre mag in pandemischen Zeiten ihre Berechtigung haben. Es gibt momentan wenig einfache Lösungen. Doch sollte das Virus nicht dauerhaft die Form der Lehre im 21. Jahrhundert bestimmen.