von Anna Seifert
Im Sommer 1989 schwimmt Mario Wächtler in die Freiheit. Über die Ostsee verlässt er die DDR in Richtung Westen. Mit nicht mehr als laminierten Papieren, Flossen und etwas Traubenzucker. Ein Gespräch über Freiheit und die deutsche Teilung.
Freischnauze drauf los
Mit 15 Jahren versuchte Mario Wächtler zum ersten Mal aus der DDR zu fliehen. Warum genau wisse er gar nicht mehr. „Ach, mit 15 hat man doch nichts im Kopf. Ich hab‘ mich einfach in den Zug Richtung Westen gesetzt, die Grenzer haben mich dann erwischt und rausgezogen“. Eine Nacht war er in U-Haft, erzählt Wächtler, und eine Woche im Kinderheim. Er wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Neun Jahre später gelingt ihm die Flucht in den Westen.
Es war das Jahr 1989, Wächtler war 24 Jahre alt und wollte nicht länger warten. „Die Jahre sind davongerannt. Zu diesem Zeitpunkt war ich fit, vorbereitet und durchtrainiert“. Der Augenblick war günstig. Wächtler war Rettungsschwimmer in der DDR, auch selbst Ausbilder. Einmal in der Woche trainierte er das Ausdauerschwimmen. „Meine Eltern hatten im Vogtland einen festen Campingplatz. Da gab es ein Schwimmbecken, 7 Kilometer lang. Da bin ich auf und ab geschwommen“. Warum er länger trainierte als sonst, habe er niemandem erzählt.
Von einem Strand zwischen der Wismarer und der Boltenhagener Bucht aus wollte Wächtler es wagen. Von dort aus konnte man die Küste der Bundesrepublik sehen. Nachts die Beleuchtung am Hochhaus in Travemünde, tagsüber die Küste. Heute erinnert in der Nähe ein Gedenkstein an diejenigen, die die Flucht über das Meer nicht überlebten. „Über der Ostsee leuchtet das Licht der Freiheit“, steht am Denkmal in Boltenhagen. Bei der Einweihung war Wächtler dabei.
In der Nacht seiner Flucht haben ihn sein Bruder und dessen Freundin zum Strand gefahren. Die beiden waren neben Wächtlers Freundin und seinem Onkel die einzigen, die er in sein Vorhaben eingeweiht hatte. „Sie war Physiotherapeutin und hat mich vollgestopft mit Traubenzucker, während der ganzen Fahrt“, lacht Wächtler. „Ich hatte einen kurzärmligen Neoprenanzug an unter meiner Hose. Dazu eine Jacke“. Ausgerüstet war er mit Fuß- und Handflossen. Am Strand sei er in eine Hecke gegangen, habe sich ausgezogen, seine Kleidung in einer Tüte zurückgelassen. „Ich bin langsam ins Meer gelaufen, habe mich hingelegt, die Flossen angezogen, bin dann 50 bis 100m getaucht mit Schnorchel, um ungesehen vom Strand wegzukommen“. Die ganze Nacht und den nächsten Vormittag hindurch musste Wächtler schwimmen, bis er am Mittag auf ein westdeutsches Schiff traf. Nur knapp gelang es ihm, sich auf das Schiff zu retten, wenige Minuten bevor er vom Grenzschutz der DDR aufgegriffen worden wäre. Auf der „Peter Pan“ entschuldigte sich der Kapitän bei Wächtler für die späte Rettung und sammelte schließlich unter den Fahrgästen mehr als 600 DM als Starthilfe für seine Ankunft in Westdeutschland.
„40 km durch die Ostsee schwimmen, da gehört schon was dazu“, erinnert sich Wächtler heute.
Flucht ins Ungewisse
„In der DDR ging es mir allgemein ganz gut“, sagt Wächtler. Was ihn im Westen erwarten würde, wusste er dagegen nicht. „Mir hätte es im Westen auch schlechter gehen können als in der DDR“. Dort hatte er ein schönes Elternhaus, eine abgeschlossene Ausbildung, einen Beruf. Auch seine spätere Frau hat er in der DDR kennengelernt.
„Das Problem war die Zukunft. Ich wusste, was in der DDR in 50 Jahren sein würde. Nämlich nichts. Genau dasselbe wie heute. Und das kann der Sinn des Lebens nicht sein“. Er sei nie ein Konsummensch gewesen, das habe er nicht vermisst. „Aber die Reisefreiheit und persönliche Freiheiten haben mir gefehlt. Dass man nicht frei entscheiden konnte, was man aus sich und seinem Leben machen wollte. Das war in der DDR nicht möglich“. Für Wächtler heißt Freiheit persönliche Freiheit – die Möglichkeit, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Für diese Chance nahm er das Risiko der Flucht und einen beschwerlichen Neuanfang auf sich. Dennoch sagt er: „Was hinter mir blieb, war nicht aus der Welt. Die Verbindungen in den Osten wollte ich immer aufrechterhalten“.
Wächtler war nie zuvor in Westdeutschland gewesen: „Mein erster Eindruck: Im Westen war alles bunt, in der DDR alles grau“. Die Straßen waren voll, die Regale auch. Große Gedanken über den Westen habe er sich am Anfang nicht gemacht. „Ich musste mich erstmal an die Wirtschaftslage hier gewöhnen. Die Mieten im Westen waren viel teurer als in der DDR. Aber das Geld hat gereicht – und ich habe mich hochgearbeitet“.
Seine Freundin mit Kind habe er in der DDR zurückgelassen. „Aber der Plan war immer, sie nachzuholen“. Sie wollte über die Prager Botschaft in den Westen fliehen, wurde auf dem Weg aufgegriffen. Ihr wurde Kirchenasyl gewährt, woraufhin man ihre Ausreise bewilligte. Drei Tage vor der Grenzöffnung konnte sie die DDR verlassen.
Von blühenden Landschaften
Als Wächtler floh, ahnte niemand, dass die Mauer noch im selben Jahr fallen würde. „Da wäre ich gern in Berlin dabei gewesen, ich hab‘ es im Fernsehen verfolgt. Fand ich fantastisch. Dass es friedlich war, kein Schuss gefallen ist“. In dieser Nacht habe sich die ganze Welt verändert.
Seit der Wende sind 30 Jahre vergangen. „Wir wussten, dass es die von Kohl versprochenen, ,blühenden Landschaften‘ nicht sofort geben würde. Aber dass es 30 Jahre und mehr dauert, damit haben wir nicht gerechnet“, räumt er ein. Er ist dennoch fest davon überzeugt, dass sich Osten und Westen in den nächsten Jahren weiter angleichen werden.
„Meine Gedanken an die DDR werden schwächer, die Zeit geht darüber hinweg“, sagt Wächtler. Er sei froh, die DDR 24 Jahre lang miterlebt zu haben. Dadurch könne er mitreden. „Für meine Kindheit und Jugend in der DDR bin ich dankbar“. Jeder habe eine Lehre abschließen können, Geld habe keine große Rolle gespielt.
Und die Demokratie? Eine beschissene Gesellschaftsform, aber doch die beste, die es gibt, meint Wächtler. Ähnlich wie beim von Marx propagierten Kommunismus funktioniere die Theorie besser als die Praxis.
Mario Wächtler lebt mit seiner Frau heute in der Nähe von Hannover. Sie haben zwei erwachsene Söhne. Wächtler hat sich selbstständig gemacht und beschäftigt heute 40 Mitarbeiter. Die Schwimmflossen von der Flucht 1989 hat er behalten. „Mit denen schwimme ich noch heute“, sagt er lächelnd.