iur.reform – Es wird Zeit für eine neue juristische Ausbildung!

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Tobias Pollmann, Martin Suchrow, Til Martin Bußmann-Welsch, Philipp Hilpert, Malte Krukenberg  

Für die Initiative iur.reform 

Die juristische Ausbildung ist seit 150 Jahren in ihrer zweistufigen Form nahezu unverändert. Und das, obwohl sich das Recht seitdem grundlegend gewandelt hat. Abgesehen von der zwischenzeitlich erprobten, aber nicht dauerhaft eingeführten, einstufigen Ausbildung (einstufig bedeutet, dass die Studierenden in wechselnden Studien- und Praxisphasen Theorie und Praxis gleichermaßen lernten und am Ende nach neun Semestern nur ein Examen ablegten – und Volljurist:innen waren, eingeführt im Rahmen des Loccum) und der Einführung des Schwerpunkts Anfang der 2000er gab es noch nicht mal größere Reformen. Die Rufe nach einem in die Grundstrukturen eingreifenden Umbau der Ausbildung sind seit jeher laut, ohne dass sich grundlegende Veränderungen abzeichnen.  

Die Initiative iur.reform will dies ändern: Dazu führt die Gruppe eine Abstimmung unter allen Jurist:innen über die Vorschläge für eine Reform der juristischen Ausbildung der letzten 20 Jahre durch. Mit den Ergebnissen dieser Befragung soll die bisher zersplitterte Debatte zwischen den verschiedenen Akteur:innengruppen auf eine gemeinsame Grundlage gestellt werden.  

Angestauter Reformbedarf?  

Dass die juristische Ausbildung reformbedürftig ist, war die nahezu einhellige Meinung in einer Anhörung von Expert:innen im Deutschen Bundestag im Dezember 2020. Anlass der Anhörung waren zwei Anträge, die den Fokus in der juristischen Ausbildung verstärkt auf die Digitalisierung legen sollten. Denn Digitalisierung ist bisher nur selten in der Ausbildung zu finden. Ergebnisse kürzlicher Umfragen zeigen, dass Jurastudierende die Ausbildung als sehr stressbelastet wahrnehmen. Das beinahe singuläre Prüfungssystem mit sechs über alles entscheidenden Klausuren am Ende der Ausbildung, tut dazu sein Übriges. Im Ausland blickt man derweil verwundert auf das Staatsexamen. In Österreich wurde beispielsweise das bis dahin ähnlich wie heute in Deutschland strukturierte Studium auf einen Bachelor/Master-Studiengang umgestellt, ohne dass es zu größeren Verwerfungen kam. In den anderen europäischen Ländern ist die juristische Ausbildung schon länger so aufgebaut.  

Die wiederkehrende, zersplitterte Debatte 

Über die Jahre erweckten zahlreiche Beiträge in Literatur und Presse mit nicht unerheblicher Reichweite hin und wieder das Gefühl, dass eine größere Reform kurz bevorstünde. Doch der Gesetzgeber begnügt sich oft mit kleinteiligen Stellschrauben – etwas weniger Stoff an einer Ecke, etwas mehr Stoff an der anderen. Sinnbildlich für den Vor- und Rückschritt sei hier nur der Beschluss der Justizministerkonferenz aus dem Jahr 2019 genannt, wonach keine Gesamtnote aus Schwerpunkt und staatlicher Prüfung im Zeugnis über die erste juristische Prüfung mehr gebildet werden sollte. Dass dieser Beschluss nicht Gesetz geworden ist, ist in erster Linie dem Protest der Studierenden zu verdanken. Die nunmehr geschaffene Rechtsgrundlage für das elektronische Examen hingegen ist ein echter Fortschritt.  

Allein in den letzten Jahren machten Akteur:innen aus allen Bereichen der Rechtswissenschaft wie die Professorinnen Katrin Gierhake oder Elisa Hoven, mit Umfragen, Diskussionsveranstaltungen und Zeitschriftenbeiträgen auf die Reformbedürftigkeit der juristischen Ausbildung aufmerksam. Stephan Breidenbach und Ulla Gläßer schlugen in ihrem Manifest eine gänzlich neue Rechtslehre vor, die in der New School of Law umgesetzt werden soll.  

Aber auch studentische Initiativen wie iurExit, die sich insbesondere für eine unabhängigere Form der Staatsexamensvorbereitung einsetzen oder auch recode.law, die Diskussionsveranstaltungen zur Neuordnung des Studiums organisieren, treiben den Diskurs voran.   

2020 organisierten der Deutsche Anwaltverein (DAV), der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften (BRF) und die European Law Students Association (ELSA) eine Umfrage unter Studierenden und Absolvent:innen und verfassten ein Thesenpapier zur Jurareform. Das Unternehmen LexSuperior begann im Jahr 2019 mit einer jährlichen digital Study, um den Digitalisierungsbedarf der juristischen Ausbildung zu erfassen. 

Doch fehlt es an großangelegten Studien, Konzeptentwürfen oder Konferenzen aller Akteur:innen, auch mit Beteiligung der (Landes-)Justizministerien und des Gesetzgebers. Das gab es zuletzt zur Akademie Loccum 1968, welche letztlich in der vorübergehenden Einführung der einstufigen juristischen Ausbildung mündete.  

An Vorschlägen mangelt es nicht  

Angesichts der seit langem immer wieder geführten Debatten über eine mögliche Reform, mangelt es nicht an Vorschlägen. Regelmäßig treten Gruppen oder Einzelpersonen auf und benennen Vorschläge für die verschiedenen Bereiche der Ausbildung. Diese Vorschläge lassen sich grob in die folgenden Themenbereiche aufteilen: Studienmodelle und -konzepte, Aufbau und Inhalte der ersten juristischen Prüfung, Inhalte und Organisation des Studiums, Rolle des Schwerpunkts, Examensvorbereitung sowie Bewertung und Inklusion. Die Thesen reichen von der Einführung eines integrierten Bachelors, der Ergänzung des Studienkatalogs um Inhalte wie Legal Tech oder Mediation, über die Zulassung von Hilfsmitteln im Examen und reichen bis hin zu Forderungen, die Notenstufen zu verändern oder die Laufbahnorientierung während des Studiums zu ermöglichen.  

Diskursauswertung und Abstimmung auf einer zentralen Plattform 

Der Verein Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e. V. will auf Grundlage der bisherigen Vorschläge den Diskurs bündeln und eine gemeinsame Diskussion ermöglichen.   

Dafür wurden über 250 Beiträge zur Reformdebatte aus dem Zeitraum von 2000 bis 2021 gesammelt und ausgewertet. 44 häufig diskutierte Vorschläge wurden in Thesenform zusammengefasst und werden in einer großen Abstimmung von Studierenden, Praktiker:innen, Lehrenden, Mitarbeiter:innen der Landesjustizprüfungsämter und den politischen Entscheidungsträger:innen, kurz: von allen Akteur:innen bewertet. Die Herangehensweise verfolgt einen wissenschaftlich offenen Ansatz. Der Verein zielt nicht auf eine bestimmte Reform und hat keine Präferenz in Bezug auf die Ergebnisse. Die Abstimmung stellt eines der Herzstücke der Kampagne iur.reform dar. Sie wird flankiert von einem Informationsbereich auf der Webseite der Kampagne. In dem Informationsbereich können die vorgeschlagenen Thesen sowie die in der Literatur vorgebrachten Pro- und Contra-Argumente eingesehen werden. Die Webseite soll damit auch zu einer Art Wiki für Reformvorschläge für die juristische Ausbildung werden. Hierbei haben die Akteur:innen auch die Möglichkeit, eigene Reformvorschläge einzureichen, die über die bisherige Darstellung hinausgeht.  

Mit diesem Vorgehen will die Initiative zwei Ziele erreichen. Erstens soll durch die Abstimmung über die vorgeschlagenen Reformthesen ein umfassendes Stimmungsbild erhoben werden. Es soll in Zukunft nicht mehr möglich sein, unter Verweis auf die diffuse Debatte eine Reform zu vermeiden. Deshalb ist eine große Zahl an Teilnehmenden für die Aussagekraft der Ergebnisse entscheidend.  

Zweitens soll durch die Aufbereitung der Argumente aus der Literatur eine Debatte auf einer gemeinsamen Datengrundlage entstehen, in der beispielsweise Studierende und Praktiker:innen gemeinsam über die bestehenden Vorschläge diskutieren.  

Die Abstimmung ist in enger Koordination mit dem DAV, BRF und ELSA sowie eLegal, recode.law und anderen Initiativen entstanden.  

 
Weiteres Vorgehen und bisherige Rezeption 

Die Abstimmung startete am 17. Januar 2022 und läuft bis zum 17. Juli 2022. Der Start der Kampagne wurde von verschiedenen Seiten positiv aufgenommen. Es finden sich Beiträge und Berichte in einer Vielzahl von Publikationen und Medien wie NJW, FAZ-Einspruch und Deutschlandfunk. Zur Auswertung der Umfrage wird iur.reform eine reliable, valide und objektive Studie in interdisziplinärer Kooperation erstellen. Damit soll eine Datengrundlage in die Debatte eingeführt werden, auf der die weitere Diskussion fußen kann. Alle Akteur:innen dieser Debatte sollen so die Möglichkeit erhalten, auf Empirie statt abstrakten Einlassungen zu bauen.  

Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e. V.  

Die Idee für iur.reform entstand 2019 als Til Bußmann-Welsch, Sophie Dahmen und Martin Suchrow am Ende ihres Studiums bzw. am Ende der Ersten Juristischen Prüfung standen. Alle drei hatten die gerade wieder einmal stärker werdende Debatte, die insbesondere auch von Frau Prof. Hovens Beitrag in der FAZ Einspruch geprägt war, eng verfolgt. Heute besteht iur.reform aus Studierenden, Promovierenden, Referendar:innen und einem Staatsanwalt. In einem Beitrag in FAZ Einspruch beschrieben drei Mitglieder der Initiative Gründe für die bisher ausbleibende Reform der juristischen Ausbildung. Im Dezember 2020 folgte in einem Aufsatz in der REthinking Law ein erster Überblick über die Reformdebatte der letzten 20 Jahre und das geplante Vorgehen in der Kampagne iur.reform. Im Frühjahr 2021 wurde der Verein Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V. gegründet, der die Kampagne iur.reform verantwortet.  

Ausblick 

Kurzfristiges Ziel der Kampagne iur.reform ist es, eine möglichst große Anzahl an Teilnehmenden an der Abstimmung aus der gesamten Bandbreite der juristischen Ausbildung und Praxis zu gewinnen. Hierzu kooperieren wir weiterhin mit dem DAV, BRF, ELSA, eLegal und recode.law sowie weiteren Initiativen.  

Wenn die Abstimmung ausgewertet und die Studie erstellt ist, werden wir uns dafür einsetzen, dass dies zur Grundlage zukünftiger Entscheidungsprozesse gemacht wird. Wir werden uns zusammen mit den Interessenverbänden für eine neue und moderne juristische Ausbildung einsetzen. Der gemeinsame Diskurs mit allen Akteur:innen ist für den bevorstehenden Weg unerlässlich.