von Sophia Schamberg
Vor 75 Jahren wurde Deutschland vom Nationalsozialismus befreit. Die Freiheiten, die uns damals geschenkt wurden, scheinen für viele zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Die aktuelle Krise kann Lehrmeister sein. Ein Text darüber, wer wir waren und wer wir sein wollen.
Wir vermissen: Das Treffen mit Menschen, das Biertrinken in Bars, das Lernen in Schulen und Universitäten. Wir wollen uns fordern, uns bilden, uns sehen, uns lieben. Diese Freiheiten waren bis gestern selbstverständlich, heute erlernen wir ihren Wert.
Auch das merken wir jetzt: Dass Öffentlichkeit mehr ist als die digitale Anwesenheit Fremder im eigenen Wohnzimmer. Dass es für Meinungen eine Projektionsfläche braucht, dass sie auf Austausch angelegt sind. Unsere Forderungen verhallen heute in der Stille des Privaten. Sie gelangen nicht mehr nach Berlin, geschweige denn nach Moria. Wir merken: Dass Öffentlichkeit wertvoll ist, wenn wir sie als demokratische Öffentlichkeit verstehen.
Wir stellen fest, dass etwas fehlt, wenn wir auf uns selbst zurückgeworfen sind. Es ist gerade das Anderssein Fremder, das uns herausfordert und uns ermöglicht, unseren eigenen Lebensentwurf mit ihnen abzugleichen. So sein zu wollen oder eben anders. Das Interessante am Mit- oder Nebeneinander entsteht gerade erst durch unsere Unterschiede. Wir lernen: Dass Freiheit auch Reibung ist, und dass Entwicklung durch Inspiration und Widerstand entsteht.
Deutschsein – Ein belastetes Privileg
Uns wird bewusst, dass wir aufeinander angewiesen sind. Einerseits nehmen wir Menschen heute als „systemrelevant“ wahr, deren Prekarisierung gestern noch individuelles Schicksal war. Andererseits erfahren wir auch: Dass die Stärke der staatlichen Institutionen unsere existentiellen Bedürfnisse sichert und wir gerade – oder nur – dann in politischen Dimensionen denken, wenn wir uns um unsere Grundbedürfnisse nicht fürchten müssen. Dass also unsere politische Freiheit in unserer Sicherheit und elementaren Gleichheit wurzelt.
Was uns beruhigt: Dass unsere Regierungen um die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen zu ringen scheinen. Dass sie unsere Notlage zumindest nicht offensichtlich nur zur Sicherung ihrer eigenen Macht missbrauchen. Dass Rationalität noch als Maßstab an Regierungshandeln angelegt werden kann
Wir sehen, dass es uns in Deutschland besser geht als Menschen in anderen Ländern. Dass es ein Privileg ist, in Deutschland zu leben. Was manche vielleicht nicht sehen: Dass es ein noch größeres Privileg ist, unwidersprochen deutsch zu sein, weil das oft auch heißt: Die Inanspruchnahme von Rechten noch nie gerechtfertigt zu haben und im Angesicht unverhältnismäßiger Freiheitsbeschränkungen aufrichtig erschrocken zu sein. Darin liegt die eigentliche Ambivalenz unserer Geschichte.
Befreiung – Die Möglichkeit unserer Freiheit
Was wir uns am 8. Mai 2020 als normales Leben zurückwünschen, ist in Wahrheit das Privileg eines Lebens in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft. Garant unserer verbleibenden Freiheiten und unseres verbleibenden Wohlstandes ist am 8. Mai 2020 der Rechtstaat samt seinem Versprechen, die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen. Im Moment mag unsere Freiheit oft Wunschdenken bleiben, doch wäre sie ohne den 8. Mai 1945 nicht einmal das: Denkbar. Die Befreiung von damals wirkt bis heute fort.
Für Alexander Gauland und die AfD als Ganze, stellt sich der 8 Mai 1945 dagegen als „Verlust von Gestaltungsmöglichkeit“ dar – so Gauland gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Den Verbleib in einer Diktatur als Gestaltungsmöglichkeit zu bezeichnen, ist bestenfalls intellektuell arm. Denn welches Volk sollte sich eine solche Verfasstheit geben wollen? Das „reine“, „saubere“ „Deutsche Volk“ ist keine real existente Entität und ist es nie gewesen. Wir waren immer schon zugewandert, homosexuell und andersgläubig, wenn vielleicht auch heute mehr als gestern. Als Zurechnungspunkt staatlicher Gewalt aber hat das Volk im nationalsozialistischen Sinne sicherlich zu keiner Zeit getaugt. Es ist eine Wahnvorstellung – Wir sind nie „rein“ gewesen.
Was demokratische Freiheit nicht mehr ertragen muss
Mehr noch als dumm ist der Satz menschlich grob unanständig. Er relativiert die Verbrechen des Nationalsozialismus. „Gestaltung“ klingt, als wäre Adolf Hitler Landschaftsgärtner gewesen. Das ist blanker Hohn gegenüber allen Menschen jüdischen Glaubens, und allen, die in irgendeinem Sinne nicht diesem obskuren „Normalen“ entsprechen können oder wollen. Er verspottet alle, die an den Frieden in Europa glauben und all diejenigen, die die Freiheit ihres Nächsten über die eigene Unwidersprochenheit stellen.
Dummheit und Unanständigkeit des anderen zu ertragen, auch das kann zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehören. Alexander Gauland aber ist Bundestagsabgeordneter und hat sich in dieser Funktion geäußert. Für gewöhnlich scheint es mir akzeptabel, wenn Abgeordnete Dinge sagen, die nicht meiner Meinung entsprechen. Sie sind Beiträge zu einem Diskurs und tragen insofern die Möglichkeit eines Kompromisses in sich. Wer aber Anleihen am nationalsozialistischen Unrechtsregime nimmt, will keinen Kompromiss. Er bewegt sich vielleicht in den Grenzen der Meinungsfreiheit, steht ideologisch jedoch außerhalb des demokratischen Diskurses. Alexander Gauland hat dies als mein, als unser Repräsentant gesagt. Es mag nicht viel helfen, und doch scheint es mir darauf anzukommen: Ich weise diese Äußerung von mir. Niemals wieder dürfen solche Gedanken konsensfähig werden. Nicht wenn wir wollen, dass Freiheit unsere neue, alte Normalität wird.