Vintage – Warum wir alte Sachen wollen| Henrik Volkmann

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Auf den ersten Seiten von Christian Krachts Roman Faserland diskutiert der namenlose Ich-Erzähler mit Freundin Karin über die vorzugswürdigere Farbe einer Barbour-Jacke. Sie findet blau besser, „weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind“. Er findet: „Abgewetzte Barbour-Jacken, das führt zu nichts.“

Aber was ist davon zu halten? Führt das wirklich zu nichts? Was ist der Reiz an alten Dingen und gebrauchter Kleidung und warum erleben sie gerade heute einen neuen Boom?
Ich gehe auf Spurensuche: Bei meinen Eltern zuhause finde ich Bilder meines Vaters, die von einer Segelreise stammen als er ungefähr in meinem Alter war. Auf dem Segelboot trägt er einen mittelblauen Sweater aus Baumwolle mit einem violett aufgedruckten Smiley-Luftballon auf der linken Brust. Die Augen des Smileys sind durchgekreuzt, wie bei toten Comicfiguren. Er lächelt leicht unrasiert in die Kamera. Verwegen und cool. Vor der Sonne schützt ihn eine Sonnenbrille mit runden verspiegelten Gläsern, wie sie nur Designer in den 90ern ersinnen konnten. Auf dem Kopf eine knautschige rote Kappe. „Kieler Woche 1991“ steht darauf. Ein anderes Bild. Papa lehnt lässig mit einem Kumpel an der Seite des Segelboots. Die Kappe sitzt jetzt schräg auf dem Kopf. Die verspiegelte Sonnenbrille ist einer RayBan Wayfarer gewichen. Obenrum: Pinker Fleecepullover mit blauen Details, aufgestelltem Kragen und Knopfleiste mit Druckknöpfen bis zum Brustbein. Untenrum: Blau-gelbe Badehose. An den Füßen trägt er navy-blaue Cotton Canvas Deck Shoes. Lässig. Ein Vintage-Outfit, um das ihn jeder Jugendliche beneiden würde.

Früher war alles besser

Was ist Vintage überhaupt? Der Begriff stammt eigentlich aus der Weinherstellung, wo er einen besonders guten Jahrgang und damit einen besonders erlesenen Wein beschreibt. Eine besondere Erlesenheit konnte ich Papas Outfit jedenfalls nicht abgewinnen. Aber manche Dinge sind sicherlich an alter Kleidung besser. Abgesehen von Schnitten und Designs, die der Mode unterliegen, ist es vielleicht die Qualität der Kleidung, die einen Vergleich mit einer Flasche Wein möglich macht? In der Tat ist die alte Levi‘s Jeans robuster und fester im Stoff. Auch das Lacoste Polohemd aus den 80ern fühlt sich wertiger an. Aber kann das allein ausreichen? Kaufen wir alte Klamotten, weil sie nach all den Jahren in Schränken trotzdem noch hochwertiger sind als moderne Exemplare?

Wohl kaum. Es sind nicht materielle Gründe, die unsere Faszination für Vintage-Mode ausmachen. Längst sind es nicht nur alte Menschen, die finden, dass früher alles besser war. 18-jährige hören wieder GenesisDepeche Mode und andere Musik aus den 80ern – am besten sogar auf alten Vinyl-Platten. Aktuelle Serien wie Stranger Things und Dark, die in dieser Zeit spielen, prägen unser Bild jener Zeit, in der unsere Eltern groß geworden sind. War nicht damals vieles besser als es keine Smartphones gab, keine Airpods und kein Instagram? Würden wir nicht alle gerne einen Sommer in Norditalien gemeinsam mit Elio und Oliver aus Call me by your name verbringen und mit dem klapprigen Rad zu abendlichen Dorfpartys fahren, am Limoncello nippen und womöglich eine kleine Sommer-Affäre beginnen?

Auch wenn diese Zeit vergangen ist, können wir sie zumindest teilweise zurückholen durch die Musik und auch die Mode. Wer Zweifel hat, ob wirklich ein Interesse daran besteht, dem sei geraten sich die Kollektionen großer Modehäuser anzusehen. Inzwischen legen Marken wie Adidas und Nike neue Kollektionen auf, für deren Genese die Entwicklungsabteilungen eigentlich nur einen Blick in die Archive werfen

mussten. Die adidas Gazelle wird exhumiert, wiederbelebt und läuft grazil an den Füßen von TikTok-influencten Jugendlichen durch die Europapassage. Wüsste ich es nicht besser, würde ich wetten, dass Papas pinker Fleecepulli aus dem Fotoalbum von Patagonia ist.

Den größten Reiz haben aber Echt-Vintage-Produkte, die nicht nur alt aussehen, sondern es auch wirklich sind. Ihren modernen Halbgeschwistern haben Echt-Vintage- Teile jedenfalls voraus, dass sie vielleicht sogar dabei waren, damals im Sommer als der Limoncello getrunken wurde und Depeche Mode aus den Boxen drang. Und nicht nur für die fast schon aus dem Bewusstsein verschwundene gute alte Barbour-Jacke gilt: Gebrauchsspuren zeugen von der Vita des Vorbesitzers – jeder Fleck, jeder Riss erzählt eine Begebenheit. Vintage-Teile erzählen Geschichten, die uns wahrscheinlich für immer unbekannt bleiben werden. Aber allein die Ahnung, dass da etwas sein könnte, dass es eine Vorgeschichte gibt, übt einen gewissen Reiz aus.

Die Vintage-Industrie

Was aber tun, wenn die eigenen Eltern ihren Kindern keine Überbleibsel ihrer jugendlichen Lässigkeit anzubieten haben? Abhilfe schaffen Vintage-Läden, wie es sie eigentlich schon lange gibt. Früher pflegten sie ein Außenseiterdasein. Eher in kleinen Gassen und Nebenstraßen zu finden, luden sie zum Stöbern ein, standen eher für Subkultur als für Mainstream. Doch spätestens seit Macklemore diese Läden in seinem internationalen Hit Thrift Shop aus dem Jahr 2012 besang, rückten Vintage- Läden in den Fokus der Trendbewussten. Im Musikvideo noch eher Ausrüster für exzentrische Pfennigfuchser auf der Suche nach dem individuellsten Kostüm für eine Party, wandelten sich Vintage-Läden wenig später zu vorzeigbaren Geschäften – auch in Innenstädten.

Inzwischen ist Vintage genauso kommerziell wie Neuware. Vintage-Shops sind nicht mehr versteckt in Seitenstraßen, sondern können sich Prime-Lagen in der Innenstadt leisten. Erst kürzlich eröffnete am Jungfernstieg ein Vintage-Laden. Teils werden Preise abgerufen, die mit Neuware konkurrieren. Macklemore wäre mit seinen 20 Dollar hier nicht weit gekommen. Die Zeit, in denen Schnäppchen zu machen sind, ist genauso vergangen wie die Zeiten, aus denen die Sachen stammen.

Der Vintage-Trend setzt sich auch im Internet fort. Der erfolgreiche Online-Marktplatz für Second-Hand-Kleidung Kleiderkreisel gab seinen zugegebenermaßen stark angestaubt klingenden Namen zugunsten von Vinted auf. Der neue Name ist Programm und passt zum Trend. In Deutschland hat Vinted zwischen neun und elf Millionen registrierte Mitglieder, weltweit sind es über 65 Millionen. Gott ist tot, aber der Konsum lebt.

Mit besonders wenig Schuldgefühl lässt sich die neue Ersatzreligion ausleben, wenn man Vintage kauft. Denn was schon hergestellt ist, verursacht kein CO2 und verschmutzt keine Flüsse in Bangladesch. Vintage zu kaufen ist fast schon ein Akt des modernen Altruismus, denn der Vintage-Shopper rettet wertvolle Ressourcen vor der rücksichtslosen Verschwendung. Dieses Robin-Hood-Gefühl kann man sonst nirgends kaufen.

Alle sehen gleich aus

Neben der Qualität, dem Flair der Vergangenheit und dem Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, ist es auch die Mode selbst, die Vintage populär macht. Aktuell ist Mode bei jungen Menschen besonders paradox: Nie zuvor hat unsere Gesellschaft mehr Individualismus zugelassen und doch sehen junge Menschen gleicher aus denn je:

Alle tragen sie schwarze North-Face-Puffer-Jackets, weite Jeans und Nike Air Force Ones – geschlechtsunabhängig übrigens. Erst letztens begegnete ich auf dem Kudamm in Berlin einer derart uniformierten Adoleszenten-Armee. In Hamburg wird für den sonntäglichen Winterspaziergang um die Alster wahlweise statt der Puffer- Jacket eine lange Daunenbettdecke um den Leib geschlungen und die Air Force One weichen bequemen Copenhagen-Boots. Wie ein Cupcake wird das Haupt gekrönt von einer neonfarbenen Riesenmütze. Hier besteht noch Wahlfreiheit – begrenzt durch die Textmarker-Spektralfarben.

Individualismus ja, aber bloß nicht auffallen. So lautet scheinbar das Credo. Vintage Pieces erlauben dabei den wohlkalkulierten Ausbruch aus der Norm – das Vintage-Top sieht zwar aus wie von Zara, aber das ist gut so. 50 Euro für ein altes Stück Stoff? Gekauft! Denn wird man nach dem Fit Check in der Insta Story nach der ID des darin getragenen Teils gefragt, möchte man bemitleidend antworten können: „Sorry, das Teil ist Vintage“. Nachkauf ausgeschlossen. Vintage ist der letzte Ausweg einer von TikTok-Trends und Influencern weichgespülten Generation, die Angst vor zu viel Individualismus hat.

Wohin führt uns also diese Obsession mit dem Gebrauchten? Man könnte sagen, der Vintage-Trend passt in die Zeit. Gebrauchte Dinge weiter zu nutzen ist nicht nur umweltbewusst und ressourcenschonend, sondern gibt unserer konsumverlorenen Welt ein Stück Charakter zurück, nach dem wir uns offenbar sehnen. Vintage ist ein Lebensgefühl, eine Einstellung, mit der sich Geld verdienen lässt. Neben Kleidung wandern inzwischen auch Schallplatten und analoge Kameras für obszöne Preise über die Ladentheke. Aber das ist okay. In der markenfetischisierten Modewelt ist Vintage die Über-Marke, der Joker quasi. Zurück in die Zukunft! So schlecht kann es ja nicht werden.

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