Von den Defiziten, die Putins Krieg offenlegt, und den Umwälzungen, die kommen.
von Marc Philip Greitens
In der letzten Februarwoche schien das Leben aus den Fugen zu geraten. Für ein paar Tage jedenfalls glaubte ich, dass es so kommt: Am 24. hatte Wladimir Putin die Tore zur Hölle aufgestoßen. Am 25. fragte die Bundeswehr die Verfügbarkeit von aktiven Reservisten wie mir ab – man wisse angesichts der aktuellen Dynamik nicht, was noch komme. Am 26. dankte Präsident Selenskyj – ein paar Tage zu früh, wie sich später zeigte – Präsident Erdoğan für dessen Entschluss, die Durchfahrt am Bosporus für russische Kriegsschiffe zu sperren. Das klang verdammt nach Kriegseintritt der NATO. Als Putin dem Westen mit Atomkrieg drohte und Bundeskanzler Scholz die „Zeitenwende“ verkündete, dachte ich, die Tore zur Hölle seien auch für uns sperrangelweit offen. Heute wissen wir: Im Feuer stand und steht nur die tapfere Ukraine.
Die Unwilligkeit der SPD, zu lernen
Schon sind Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit zurück. Gerade was meine liebe SPD mir und allen anderen seit Wochen zumutet, ist ganz harter Tobak. Ich frage mich, ob ich vielleicht doch zuerst aus ihr und dann erst aus der katholischen Kirche austreten soll. Lambrecht, Mützenich, Dieren („Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jan Dieren sieht die militärische Aufrüstung in Deutschland und anderen Ländern angesichts des Ukraine-Konflikts kritisch.“ – Berliner Zeitung vom 05.05.2022) und wie sie alle heißen haben es immer noch nicht verstanden: Si vis pacem, para bellum. Nur wer auf den Krieg vorbereitet ist, wird auf Dauer in Frieden leben. So ist das in unserer unperfekten Menschenwelt nun mal – immer gewesen, lange erforscht und bewiesen. Nur meine liebe SPD, die rafft es nicht, und wurschtelt und windet sich.
Putin: Nicht verrückt, aber böse – und gescheitert
Was die letzten Wochen auch gezeigt haben: Putin ist nicht verrückt. In jener letzten Februarwoche habe nicht nur ich ihn für wahnsinnig erklärt. Aber er ist es nicht. Was er ist: Revisionist, Imperialist, Zyniker. Er korrumpiert, manipuliert und lässt töten – und er plant Jahre im Voraus. Sein Weltbild muss jedem Freiheitsliebenden zuwider sein. Aber Putin hat sich mit dem Angriff auch im Norden und in der Mitte verkalkuliert. Er hat den schweren Fehler gemacht, die Ukraine zu unterschätzen. Er dachte, Kiew wird wie Kabul oder Bagdad einknicken, sobald sich ein Feuersturm erhebt. (Viele im Westen dachten das übrigens auch.) Ist es aber nicht.
Klar ist zudem: Egal wieviel Land in Ost- und Südukraine Russlands Truppen noch erobern werden, strategisch muss Putin eine vielleicht karrierebedrohende Niederlage hinnehmen. Ganz anders als es sein Ziel gewesen sein kann, ist die NATO wieder zum Leben erwacht: Sie ist stark und präsent wie nie an ihrer Ostflanke, wird um Finnland und Schweden wachsen und rückt an Russland heran, wie sie es ohne den Krieg nie gewagt hätte. Und Putins Überfall hat die Ukraine erst zu dem eigenständigen und von Russland entfremdeten Land gemacht, das Putin als Nachbarn nie haben und nie wahrhaben wollte: Frei, demokratisch, wehrhaft, unverrückbar westgebunden.
Harte geopolitische Lektionen
Aber Putin und seine Silowiki, seine Mitstreiter aus dem Sicherheitsapparat, haben auch gezeigt, wie sehr ihr strategisches Denken dem deutschen überlegen ist. Sie haben nicht nur einen (ehemaligen) deutschen Bundeskanzler korrumpiert, sondern Scholz’ SPD genauso wie Merkels CDU und die gesamte gasgierige deutsche Industrie mit ihnen. Und Gazprom ist nie Deutschlands Freund gewesen, auch wenn sich Schröder, Schwesig und Schalke sich das bei viel Schampus und Kaviar haben einreden lassen.
Noch eine harte Wahrheit: Der Ausstieg aus der Atomkraft kam zu früh. Auch diese Lektion hat Russland uns beigebracht. Außerhalb Deutschlands haben unsere geopolitisch versierteren Partner seit vielen Jahren gewusst und gewarnt: Mach dich nicht von den Energielieferungen eines geopolitischen Gegners abhängig, Deutschland. „Wandel durch Handel“ – Ok, aber nur in Verbindung mit einer risikominimierend diversifizierten Versorgung. Ja, ihr habt recht: Atomkraft ist unheimlich und die Endlagerung ist ein ungelöstes Problem. Aber das Schicksal der ehemaligen UdSSR-Republiken ist viel näher und viel brutaler als ein GAU an der Elbe. Und auch umweltpolitisch gilt: Priorität Nr. 1 muss der Kampf gegen das CO2 sein. Deswegen war und ist es rational, von Deutschland erst einmal zu fordern, die Kohlekraftwerke abzuschalten, dann die Reaktoren. Doch Deutschland wollte (und will) nicht hören.
Putins „long game“ hat sich natürlich nicht nur auf Europa beschränkt. Er hat seine Bevölkerung in einem Maße gehirngewaschen und abgeschottet, dass sie ihm heute jede Lüge glauben. Richtig ist, dass er den Russen wieder Selbstbewusstsein gegeben hat, nachdem ein stets betrunkener Boris Jelzin seinem Land in der Außendarstellung und Selbstwahrnehmung einen Bärendienst erwiesen hatte. In jüngerer Zeit hat Putin Allianzen jenseits des Westens geschlossen: im Rahmen der BRICs, über Sicherheitszusammenarbeit etwa in Syrien, Libyen, Mali. Russland hält Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze auch aus dem Grund aufrecht, jederzeit den Flüchtlingsdruck auf den unberechenbaren, strategisch klugen, zwischen allen Mächten balancierenden Präsidenten Erdoğan ausüben zu können. Und fast hätten die Silowiki den großen Gegenspieler USA durch eine weitere Amtszeit ihres nützlichen Idioten Donald Trump weiter destabilisiert. Mit Trump an der Macht wäre die Ukraine vielleicht tatsächlich überrannt worden.
Sanktionen, die das Gegenteil erreichen
Und es ist nicht nur Putins Handeln, das uns so blank dastehen lässt wie die Bundeswehr ihren Heeresinspekteur. Ja, Wirtschaftssanktionen sind eine naheliegende Option. Jeder halbwegs rational kalkulierende Akteur wird sich das Ob und Wie und Wie-lange eines Angriffs gründlicher überlegen, wenn die Kosten steigen. Wirtschaftskrieg ist auch besser als Krieg mit Waffen. Der Absturz des Rubels, die Panik an den Bankautomaten der ersten Tage schienen gerade den Amerikanern und Briten recht zu geben: Russland werde bald schon wirtschaftlich der Atem ausgehen, den Krieg weiterzuführen. Nur heute muss man sagen: Pustekuchen. Der britische Economist hat vor wenigen Tagen analysiert: die westlichen Sanktionen machen die russische Wirtschaft aktuell reicher, nicht ärmer. Kann das sein?
Antwort: Ja, kann sein. Hauptgrund ist, dass Deutschland, Österreich, Ungarn und andere sich weigern, den Gas-, Öl- und sonstigen Rohstoffzufluss aus dem Osten jetzt und gleich zu stoppen. Die Ökonomik hinter Russlands Rekordaußenhandelsüberschuss ist eigentlich ganz einfach: Es passiert das, was passiert, wenn man einerseits teurer als zuvor verkaufen kann, selbst aber nicht mehr Geld ausgibt. Was der Westen nun brachliegen lässt (Beispiel: Ehemalige Franchisenehmer von McDonalds), machen kremltreue Oligarchen wieder fruchtbar. Und dass Russland ohne Importe aus dem Westen auf Dauer nicht auskommt, ist nicht gesagt: Mit China im Osten und Indien im Süden hat Russland zwei riesige, freundlich gesinnte Nachbarn, die fast alles, was der Westen bauen kann, mittlerweile auch bauen können – und das in der Regel für viel weniger Geld und verbunden mit viel weniger Fragen. So kann es laufen.
Vom Tod und der Geburt auf den Weizenfeldern
Im Militärischen läuft es für die Ukraine zurzeit sehr bescheiden. Ohne ausreichend Panzer und Lufthoheit werden sie im grenznahen Osten von der russischen Übermacht zermürbt. Die russischen Generäle haben ihre Lektionen gelernt. Auch wenn die Ukrainer kämpfen wie die Löwen und auch dank westlicher Aufklärung für eine selten hohe Quote gefallener Stabsoffiziere gesorgt haben: Die russische Armee ist lernfähig und jetzt rollt sie mit aller Macht. Ich will nicht wissen, wie viele zehntausende ukrainische Landesverteidiger in den Städten und auf den Äckern der Ost- und Südukraine schon ihr Leben gelassen haben. Man kann es nicht wissen. Erst die stummen Haine von Kreuzen, Davidsternen und Halbmonden, soweit das Auge reicht, werden die grausige Wahrheit offenbaren.
Die Aussichten für die Welt sind nicht gut. Die russische Blockade im Schwarzen Meer, zerstörte Ernten und vertriebene ukrainische Bauern werden zu einer nie gesehenen Hungerkatastrophe in den ärmeren Teilen der Welt führen. Die Millionen Toten, die Unruhen und das Elend derjenigen, deren Fluchtschicksale an der Festung Europa zerschellen, wird nicht allein der russische Diktator, aber doch zum größten Teil er auf seinem Gewissen haben. Das ändert nichts daran, dass es aller Voraussicht nach so kommen wird. Noch kann keiner sagen, wie groß das ist, was da auf uns zurollt – in einer Zeit, in der wir uns von der Pandemie erholen wollten und vor allem den Kampf gegen den Klimawandel führen sollten. Danke, Putin.
In all dem Wahnsinn gibt es eines, das im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaft schön ist und einen Mythos begründen wird: Wir durften die Geburt einer Nation erleben. Das Höllenfeuer, das Feinde entfesselt haben, hat die Ukraine geschmiedet, wie es jahrhundertelange Diskriminierung, NS-deutsches Gas und das versammelte arabische Feuer vor und dann in 1948 mit Israel gemacht haben. Wie dieses wird jenes seine Lektion lernen: Verlass dich nicht auf andere. Sei smart, sei stark, sei auf der Hut. Auch die Schweiz weiß es und Singapur und Ruanda: Wenn du frei und friedlich leben willst – gerade zwischen Riesen – musst du bereit sein, zu kämpfen. Oder Putin oder Jinping oder Trump werden dich verschlingen ohne mit der Wimper zu zucken.
Vielleicht könnte sich die große Friedenspartei SPD von den kleinen Kriegerstaaten bei Gelegenheit eine Scheibe abschneiden.