Elon Musks Twitterübernahme – Die Zeit der neuen Gatekeeper? | Leonard Orth

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Featured

Vor etwas mehr als einem Jahr begann Elon Musk, massiv Aktien des Social Media Unternehmens Twitter zu kaufen. Im April 2022 ließ er schließlich erstmals sein Interesse an einer Übernahme des Unternehmens verlautbaren. Der Milliardär hatte als aktiver Nutzer und Fan der Plattform zuvor vermehrt Kritik an Twitters Moderationspraktiken geäußert und kündigte an, Twitter zu einem weltweiten „Dorfplatz“ für freie Meinungsäußerung zu machen. Finanzielle Motive für die Übernahme stritt Musk von Beginn an ab. Er bezeichnete sich als Absolutisten der freien Meinungsäußerung und betonte wiederholt deren Rolle als gesellschaftlich imperativ für eine funktionierende Demokratie. Sein erklärtes Ziel des demokratischeren Diskurses durch eine Verschlankung der Plattform und lockere Moderationsregeln auf der Plattform wirft jedoch die Frage auf, obweniger Kontrolle tatsächlich zu einem freieren Diskurs führt und was Plattformen tun sollten, um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden.

Gatekeeper – Große Macht, größere Verantwortung

Als Gatekeeper bezeichnet die Kommunikationswissenschaft Entscheidungsträger, die durch Einflussnahme auf den stetigen Fluss von Informationen unsere Wahrnehmung prägen. Dabei geht es nicht nur um die Selektion von Informationen, sondern auch um ihre Kontextualisierung, den Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und die Intensität ihrer Wiederholung. Gatekeeper sind notwendig und nützlich, um uns vor irrelevanten Informationen und „Information Overload“ zu bewahren. Sie können jedoch auch instrumentalisieren und schlimmstenfalls Hass und Hetze Tür und Tor öffnen. Im besten Fall sorgen sie dafür, dass den Medienkonsumenten möglichst viele verschiedene Meinungen und Ansichten zugänglich gemacht werden, um als mündiges und informiertes Subjekt über den demokratischen Prozess Einfluss auf politische Weichenstellungen nehmen zu können.

Die Berufsgruppe der Journalisten hat sich im Bewusstsein ihrer Verantwortung als Gatekeeper daher schon früh selbst einen Ehrenkodex auferlegt. So sind etwa nach der Präambel des deutschen Pressekodex publizistische Aufgaben fair, nach bestem Wissen und Gewissen unbeeinflusst von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen wahrzunehmen. Eine unabhängige Berichterstattung muss damit nicht zwingend objektiv und frei von Meinungen oder Werturteilen sein. Sie sollte aber den Anspruch haben, dem Informationsinteresse des Lesers zu dienen und zu einem informierten und kritischen Elektorat beizutragen.

Verleger trifft die gleiche Verantwortung. Denn auch sie sind durch ihre Einflussmöglichkeit auf die Berichterstattung mittelbar Gatekeeper. Sie kuratieren Informationen zwar nicht selbst, sind aber zumindest zentral für die internen Strukturen, die Auswahl der Journalisten und das Hochhalten redaktioneller Unabhängigkeit verantwortlich. Ein Beispiel ist der Namensgeber unserer Hochschule. Als Gerd Bucerius als Verleger des Stern wegen eines dort erschienenen und in den Augen der CDU christliche Empfindungen verletzenden Artikels von seiner Partei unter Druck gesetzt wurde, beendete er seine politische Karriere. Denn obwohl ihm selbst der Artikel missfiel, überwog für ihn das Missfallen an der Intoleranz seiner Partei. Dass Verleger, Eigentümer wie Berichterstatter ihre konzertierte Macht als Gatekeeper im

Interesse der Institution eines offenen demokratischen Diskurses ausüben, ist Grundvoraussetzung für dessen Bestand in der Gesellschaft.

Social Media: Die Demokratisierung von Informationen?

Internet und Social Media wurden in ihren Anfangszeiten als große Chance wahrgenommen, diese zentralisierten und etablierten Machtstrukturen der Medien und Informationswelt aufzubrechen und Gatekeeper obsolet zu machen. Auch wenn wir heute wissen, dass sich diese Utopie nicht bewahrheitet hat, war sie nicht fernliegend. In den neuen digitalen Medien kann sich jeder leicht gigantische Reichweiten erarbeiten und den öffentlichen Diskurs mitprägen. Die Niederschwelligkeit der Kommunikation führt jedoch zu einer Sogwirkung auf die gesamte öffentliche Meinungsbildung. Auf Plattformen wie Twitter, LinkedIn oder Instagram präsent zu sein, ist zwingend für alle, die heute als Journalist relevant sein oder als Politiker gewählt werden möchten. Diese Netzwerkeffekte sind im Sinne des Erfinders. In der Welt der sozialen Medien sind nicht die Inhalte der Plattform, sondern die Aufmerksamkeit und die Anzahl der Nutzer das Produkt. Anstatt eigener Inhalte werden fremde von den Plattformen auf eine Weise kuratiert, dass sie zu maximaler Interaktion oder „Engagement“ führen. Die Dezentralisierung des Diskurses hat den Gatekeeper also nicht obsolet gemacht, sondern lediglich ausgetauscht und die Interessenlage verändert.

Die neuen Gatekeeper

Die Qualität der Inhalte war bisher für Journalisten und Verleger entscheidend, um sich einen Ruf und eine Leserschaft aufzubauen, Nun sind die Algorithmen der Plattformen darauf programmiert, Interaktionen zu maximieren. Das Ziel eines informierten Nutzers rückt damit immer weiter in den Hintergrund. Der Konsument wird vom zu informierenden Subjekt zum Objekt der Gewinnerzielung. Ihm wird das gezeigt, was seine Aufmerksamkeit mit der größten Wahrscheinlichkeit auf sich zieht. Die neuen Kuratoren werden nicht an der Qualität ihrer Beiträge, sondern an der erreichten „Engagement-Rateate“ gemessen. Information ist nur noch Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst. Der niederschwellige Pfad zur Meinungsäußerung, den Social Media geebnet hat, führt aufgrund dieses Anreizsystems zu schwindender Pluralität der Ansichten, denen wir als Medienkonsumenten ausgesetzt sind. Die für einen offenen Diskurs essenzielle Empathie gegenüber anderen Ansichten wird durch Zyklen positiver Verstärkung verdrängt und absolute Dogmatismen entstehen. Musk selbst ist ein anschauliches Beispiel für diese Art der Intoleranz. Ihm gegenüber kritische Journalisten wurden nach der Übernahme kurzzeitig von der Plattform verbannt. Laut Tech-Journalistin Kara Swisher soll er sich Twitters Mitarbeitern und dem Management gegenüber in Manier von Ludwig dem XIV als „das Recht bei Twitter“ bezeichnet haben. Auch für den selbst ernannten Retter des öffentlichen Diskurses scheint der Schwerpunkt damit eher auf Absolutismus als auf freier Meinungsäußerung zu liegen.

Reinstitutionalisierung als Lösung?

Ist also bereits alles verloren, wenn selbst Visionär Elon Musk den öffentlichen Diskurs nicht retten kann? Nein. Es muss nur an anderer Stelle angesetzt werden. Die von Musk kritisierte Moderation der Inhalte durch Twitter ist nicht das Problem, sondern nur der Versuch, die schwersten Fälle von Hate Speech und Hetze einzudämmen. Dass dies, wie Musk im Fall der durch Twitter unterdrückten Geschichte über Hunter

Biden kritisiert, nicht immer völlig objektiv und frei von politischen Ansichten und Meinungen geschieht, ist eine durchaus zu kritisierende, aber unvermeidbare Nebenwirkung. Man kann eine Krankheit jedoch nicht dadurch heilen, dass man Patienten symptomlindernde Medikamente verabreicht. Die Freiheit, mehr Dinge ohne Konsequenzen sagen zu dürfen, allein genügt nicht für einen offenen und demokratischen Diskurs aus. Ebenso bedeutend ist es, dass Bürger eine Bandbreite an fundierten Meinungen und politischen Ansichten erfahren können. Einer Lösung bedarf somit eines nicht an Interaktion, sondern an Inhalte geknüpften Geschäftsmodells für das digitale Zeitalter. Das Modell sollte die Niederschwelligkeit von Social Media mit der redaktionellen Sorgfalt etablierter Medien verbinden und benötigt Eigentümer, denen die Institution des offenen Diskurses wichtiger ist als persönliche Befindlichkeiten. Anbieter wie die Plattform Post.News von Noam Bardin, die sich vordergründig über die darauf erscheinenden Inhalte monetarisieren, scheinen in dieser Hinsicht Musk und Twitter voraus zu sein. Doch vielleicht verhält es sich auch, wie einige Musk Jünger behaupten und das erratisch wirkende Verhalten des Unternehmers ist Teil eines langfristigen und genialen Plans für eine demokratische und unabhängige Medienwelt. Für wie wahrscheinlich man das angesichts der aktuellen Entwicklungen auch halten mag – es wäre jedenfalls wünschenswert.

***

An einem Tisch | Theo Kreß 

Es ist nie zu spät für einen Neuanfang, meinen vieleTiago R. war jahrelang arbeitslos und lebte auf der Straße. Jetzt, im Alter von 44 Jahren, möchte er sein altes Leben hinter sich lassen. 

In Padre Cruz, einer kleinen Sozialbausiedlung am Rande Lissabons, arbeitet Tiago in einem italienischen Restaurant, in das ich mich während des Auslandsstudiums verirrt habe. Etwas gehetzt betritt der etwa 1,90 Meter große, breitschultrige Portugiese das Restaurant und begrüßt Rita, „die Chefin“. Heute ist er spät dran.Nachdem er sich seine Arbeitsschürze übergestreift hat, tritt er hinter den Tresen der Restaurant-Bar, um den Wassertank des Kaffeevollautomaten aufzufüllen. Während er laut über die Ergebnisse der WM-Vorrunde nachdenkt, bereitet er einen Espresso für Rita zu. Tiago nimmt den Kaffee in beide Händen und möchte losgehen, dann hält er kurz inne. Er öffnet die Schutzkappe des Bohnenmahlwerks der Kaffeemaschine, entnimmt eine einzelne Bohne und drapiert sie auf dem Untersetzer. Mit breitem Grinsen und schnellem Schritt geht er auf Rita zu, stellt die Tasse ab und sagt: „para o meu empregado preferido“ – „für meine Lieblingsmitarbeiterin“. 

Rita Canelas arbeitet als Sozialarbeiterin in dem Restaurant mit dem Namen „É uma mesa“. Das Projekt ist eine Initiative der portugiesischen Hilfsorganisation CresCer und soll Menschen, die auf der Straße leben, zu einem Job verhelfen. Um den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, bietet die Organisation eine mehrschrittiges Ausbildungssystem an, das mit einer gastronomischen Trainingsphase beginnt. Nach einhundert Stunden werden die Trainees dann auch im eigenen Restaurant eingesetzt, in der Küche oder im Service. Dort arbeiten sie mehrere Monate und werden anschließend an Partnerrestaurants weitervermittelt. Gerade einmal 450 Euro im Monat, staatliche Leistungen eingerechnet, bekommen die Trainees für diese Vollzeitarbeit. Mehr kann sich das hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln finanzierte Projekt nicht leisten. Ein bisschen Geld inklusive gute Jobaussichten sind besser als gar nichts. Den Teufelskreis der Obdachlosigkeit beenden zu wollen, das hört man hier

oft, wenn man mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von „É uma mesa“ spricht. „Ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung kein Job“. Es scheint so etwas wie das Mantra im portugiesischen Kampf gegen die Obdachlosigkeit zu sein. 

Sobald das Restaurant zur Mittagszeit seine Türen öffnet, betreten die ersten Gäste das Lokal. Tiago führt sie zu ihrem Tisch, reicht die Speisekarte und bleibt geduldig. Nichts weist darauf hin, dass der Mann, der gerade die Bestellung aufnimmt, vor Kurzem noch an den Suppenküchen Schlange stand. Aber wenn er vor einem steht und mit bestätigendem Lächeln die Getränkeauswahl in seinen Notizblock schreibt, blitzt zwischen Ober- und Unterlippe manchmal eine Zahnlücke hervor, die nur erahnen lässt, was hinter ihm liegt. Tiago wuchs im Süden der portugiesischen Hauptstadt auf. Nach der Schule kellnerte er schon in jungen Jahren in den Restaurants und Bars der Stadt. Dann nahm er einen Job am Flughafen in Lissabon an, um als Vorfeldmitarbeiter das Gepäck der Reisenden zu verladen. Mehr als acht Jahre arbeitete er dort. Als Tiago 32 war, verstarben überraschend sein Vater und wenig später auch seine Mutter. Das traf ihn wie eine Kugel und warf sein Leben aus der Bahn, sagt er. In dieser Zeit ging auch seine Beziehung zu Bruch und wegen einer Rückenverletzung verlor er seinen Arbeitsplatz am Flughafen. Die Schmerzen betäubte er mit Alkohol und Drogen. Mehrere Jahre irrte er von Job zu Job, konnte aber nirgendwo Fuß fassen und wurde arbeitslos. Als er dann im Jahr 2019 seine Miete nicht mehr bezahlen konnte, landete er auf der Straße. Mehrere Monate lebte er dort von der Hand in den Mund. Essen zu bekommen, das war für ihn die größte Herausforderung, sagt er. Besonders während der Corona-Pandemie kamen kaum Touristinnen und Touristen in die Stadt und mit den Menschen blieb auch deren Geld zu Hause. 


Auf Fragen nach seiner Vergangenheit antwortet er ungern, bestenfalls schmallippig. Tiago redet lieber über die Zukunft. Die Chance, die ihm das Projekt gibt, will er nutzen und viel arbeiten. Er träumt davon, sich eines Tages ein kleines Haus zu kaufen oder auch nur eine Wohnung, das ist eigentlich egal, sagt er. Was hinter ihm liegt, möchte er vergessen und Verantwortung für das übernehmen, was jetzt ist und für die Zeit, die noch vor ihm liegt. 

Diese ambitionierte Erwartungshaltung vieler hier ist für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Fluch und Segen zugleich. Einerseits werden für das Ausbildungsprogramm gerade Menschen gesucht, die bereit sind, ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Andererseits haben alle, die hier ankommen, einen Stapel eigener Probleme und Herausforderungen im Gepäck: Ankommen im Berufsalltag, einen Platz zum Schlafen finden, den Süchten Herr werden und das Erlebte verarbeiten. In der Welt der Makroökonomie spricht man von Ceteris paribus, wenn man eine Veränderung messen möchte, ohne die äußeren Umstände zu berücksichtigen. Im Leben der Menschen, die hier arbeiten, steht und fällt die Veränderung gerade mit den äußeren Umständen. Ein persönlicher Schicksalsschlag, ein Drogenrückfall reicht, um das fragile Gerüst ins Schwanken zu bringen. Und so bleibt die To-Do-Liste der Neuankömmlinge lang und der Weg, der vor ihnen liegt, von der ständigen Angst geprägt, den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Beim Versuch, diesen Kraftakt zu meistern, scheitern manche.  

Wenn Tiago heute Abend von der Arbeit nach Hause kommt, wird kein warmes Abendessen auf ihn warten, sondern ein kleines Zimmer, in dem man nachts die Mäuse über den Boden krabbeln hört. Er wird mit Schmerzen einschlafen, weil sich

sein Rücken von den langen Nächten auf kaltem Betonboden noch immer nicht erholt hat. Ans Aufgeben will Tiago trotzdem nicht denken. Er fühlt sich wohl in seinem neuen, alten Job und genießt die Wertschätzung, die man ihm hier entgegenbringt. Es gibt ihm immer wieder ein gutes Gefühl, wenn seine Gäste ihn satt und zufrieden an die Schulter tippen und sagen: „Das war ein gutes Essen“. 

***